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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
Autoren: Cordula Simon
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sich, wie eine Taube. Sie griff erneut nach einem Stein, traf den Hund diesmal fester aufgrund der geringen Distanz, und während er zum Friedhofszaun, wo er vorher gesessen hatte, zurückschlich, drehte sie das Gerät nochmals auf, das Grab gurgelte wieder, Schaum bildete sich, sie drehte das Rad wieder auf null. Sie wartete einen Moment, schob auf der Wasseroberfläche etwas Schaum beiseite, sie würde ihn in den Armen halten, sagte sie sich, und er schlüge die Augen auf, würde sehen, wer ihn gerettet hatte und ein von ihr erhofftes Schicksal würde sich erfüllen.
    Gerade in diesem Moment, als die Bewegung im Grab abflaute, erinnerte sie sich, wie Tolik einige Wochen zuvor vorne an der Straße gestanden hatte, wo die Bäume am Rand des Gehwegs ihre Pollen hatten fallen lassen, und Tolik hatte sie gesehen, hatte ihr, Irina ins Gesicht gesehen, wie sie in der Wohnungstür stand, hatte sich gebückt und mit einem Zündholz erst seine Zigarette angezündet und dann, dort hockend, die Flamme in das weiße Pollenmeer gehalten, das aufloderte, und der brennende Schnee kroch die Straße entlang, schwärzte sich. Tolik hatte gelacht. Sie musste ihn zurückholen. Im Grab war keine Regung zu sehen, der Hund gurrte wieder, neben dem Friedhofszaun diesmal. In ihrer Wut wünschte sich Irina einen weiteren Stein, doch hatte sie das Tier schon mit allem beworfen, was sie gefunden hatte. Einmal noch, einmal noch. Sie drehte wieder an dem Rad, das Geräusch, das das Gerät von sich gab, schien ihr schriller als die beiden Male zuvor, wieder geriet die Grabesoberfläche in Bewegung, spuckte geradezu auf sie, sprudelte, und als sie nach berechneter Zeit, wie die ersten beiden Male, den Apparat abdrehte, lag wieder alles ruhig und still. Nur das Hundegurren war wieder zu hören.
    Die Musik, die sie gehört hatte, bevor sie begonnen hatte, war verklungen. Dass auch gerade diese Nacht so still sein musste. Irina begann im Wasser zu wühlen, grub, schlug zornig auf die Oberfläche ein, tauchte ihren Kopf unter, doch natürlich konnte sie nichts sehen, das einzige Licht – die Scheinwerfer ihres Lasters – war zu schwach. Sie hob den Kopf, fluchte auf den unfertigen Sputnik, bekreuzigte sich, fluchen soll man nicht. Endlich trieb Toliks Körper an der Oberfläche, sie packte ihn an den Schultern, zog ihn heraus. Er atmete nicht. Sie schüttelte ihn, schlug ihm auf die Brust. Atemspende, ihre Hände zuckten, doch sie konnte seinen Mund nicht öffnen. Sie war gescheitert, Tolik blieb tot. Tränen stiegen in ihre Augen. Sie schlug ihm wieder auf die Brust. Sie fühlte sich wie damals, als sie zum Frauentag, sie musste etwa fünfzehn gewesen sein, der Mutter einen Kuchen hatte backen wollen und nicht gewusst hatte, dass der Ofen gerade kaputt gegangen war, weswegen der Kuchen vorne roh blieb und hinten verbrannt war, und weil sie sich selbst überzeugt hatte, nicht so schnell aufzugeben, hatte sie geglaubt, dass es in Ordnung kommen könne, hatte sie den elendiglichen Kuchen nur mit einer Schokoladenglasur überzogen, die allerdings nicht die geeignete Konsistenz erreichte, weswegen der Kuchen am Ende aussah wie ein ungenießbares fäkales Etwas. In ihrem folgenden Jähzorn hatte sie den Kuchen, noch bevor die Mutter nach Hause gekommen war, mitsamt seinem Teller, der laut klirrend zersprang, auf den Beton vor der Tür geschleudert und sich enttäuscht, wütend und weinend im Schlafzimmer der Eltern hinter der Kommode verkrochen. So hektisch und vom Affekt geprägt wie damals war ihre aktuelle Reaktion: Sie sprang auf, sein Körper glitt von ihren Knien auf den Boden. Unkoordiniert in ihrem Zorn zog sie die Kabel aus dem Grab, rupfte sie grob vom Generator, packte beides auf den Beifahrersitz des Wagens, schraubte mit nassen Händen mehrmals abrutschend den Feuerwehrschlauch vom Kvas-Tank, packte ihn zu den anderen Hilfsmitteln. Die nasse Kleidung klebte ihr schwer am Körper, vervielfachte das innere Gewicht. »Tut mir leid«, sagte sie leise zu dem Hund hin, ein Schluchzen würde dieser noch vernehmen, und dann stieg Irina in den Wagen und fuhr hektisch ab, ohne sich noch umzublicken, durch die Tränen verschwamm ihr der Friedhof.

III
    Я дверь, я зверь, я ухо, я глаз,
Я швейцар между ночью и днем
Я в этих, я в тех. я в них, я в нас,
Я в тебе и в нём
    ДДТ
    »Wo bist du gewesen?« Vlad ließ sich neben Serjoga auf den zweiten Stuhl am Küchentisch fallen:
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