Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
Autoren: Cordula Simon
Vom Netzwerk:
»Ich glaub, ich hab unseren Toten gesehen.«
    »Unseren Toten?«, lachte Serjoga. »Woher willst du überhaupt wissen, wie der ausschaut?« Vlad nahm sich die Mütze vom Kopf, drehte die Filzkappe kurz in den Händen, bevor er sie auf den Tisch legte: »Ich hab in den Sarg geschaut.«
    »Warum zur Fut schaust du auch in den Sarg? Klar, dass du dir jetzt einbildest, dass du ihn überall siehst.«
    »Wir hätten bei der Beerdigung nicht saufen sollen. Ernsthaft, wir hätten das Loch gleich zuschaufeln sollen. Ich bin mir ganz sicher, der läuft herum. Hast du den Vodka am Tisch ausgesoffen?« Das Brot lag noch auf dem Glas, doch das Glas war leer. »Nein«, sagte Serjoga, dehnte das »ei« lange und tief mit einem höhnischen, gefälscht-unschuldigen Gesicht.
    »Du kannst nicht ständig den Vodka für die Toten saufen.« Vlad betrachtete seinen Freund kritisch, der sich verteidigte: »Ich hab nur ein bisschen abgetrunken, damit sie’s nicht merken.«
    »Sie sind tot, darum geht’s nicht. Sie werden’s nicht merken.« »Außer dem einen natürlich, dem du über den Weg gerannt bist.« Serjoga spitzte bei dem Satz die Lippen, teils spöttisch, teils weil er wieder aus einem Glas nippen wollte, sich dann jedoch anders entschied, ein Spucken über die linke Schulter andeutete – nur wenn er noch nicht allzu betrunken war, dachte er daran, den Teufel von der linken Schulter zu spucken – und das ganze Gläschen leerte. Vlad murrte. Er hätte nicht gedacht, dass Serjoga noch in der Lage war, zu argumentieren, doch dieser führte den Gedanken noch weiter: »Zuerst über meinen Glauben lachen und dann meinen, er habe Tote gesehen, das hab ich schon so gern.« Serjoga nahm noch einen kräftigen Schluck, obwohl er schon begonnen hatte, leicht zu lallen, griff nach der Flasche, wollte Vodka in ein zweites Glas gießen, doch Vlad wehrt ab: »Ich hätte gerne Saft.«
    »Hab keinen gekauft«, zuckte Serjoga mit den Schultern. »Warum?«
    »Nu«, Serjoga sagte immer »nu«, wenn er ein Füllwort brauchte, es war Serjogas Parasitenwort, »nu, weil das Geld nur für den Vodka gereicht hat. Und überhaupt würde sich das Doppelte an Vodka ausgehen und Saft noch dazu, würdest du nicht ständig Vodka und Brot für Tote hinstellen, die uns nichts angehen. Wie würden wir essen und trinken. Schmausen und Abstürzen.«
    Vlad fuhr mit dem Fingernagel die Kante des Küchentischs entlang: »Aber es gehört sich eben so.« Vlad wedelte nun mit dem Zeigefinger, was Serjoga noch nie sonderlich gemocht hatte, wenn ihm jemand mit dem Zeigefinger vor dem Gesicht herumfuhr: »Sind aber nicht unsere Toten. Ich sag dir: Nicht in den Sarg schauen und den Quatsch sein lassen. Geht uns ja nichts an. Wir sollen nur das Loch zumachen. Also sitzen wir’s aus und machen das Loch zu.«
    »Hast du kein Mitgefühl mit den Leuten?«, schüttelte Vlad den Kopf.
    »Mit welchen Leuten? Mit den Toten, ja, aber dass die herkommen, brauche ich auch nicht, und du lockst sie noch mit Brot und Alkohol. Sollen die doch bei den Familien bleiben.«
    »Eben die. Hast du kein Mitgefühl mit den Familien?« Ob ihm denn alles gleichgültig sei, alles egal, alles feige, alles wurst, fragte Vlad. Und Serjoga, der, wenn er trank, stets eine kleine Wanderung aus seiner üblichen Umgangssprache zu den derbsten sprachlichen Auswüchsen machte, brüllte gleich, immer noch mit dem Zeigefinger wedelnd: »Mir is es sogar Schwanz. Nur nicht involviert werden und damit auch noch böse Geister anziehen. Glaubt noch einer, das wär eine Einladung.«
    »Geister gibt’s nicht«, murmelte Vlad, »du mit deinem Aberglauben.«
    »Ist auch Traditsssija. Gehört sich so«, er zischte, wenn er versuchte, deutlich zu sprechen. »Und dein Wiedergänger da … Und mir das Glauben vorwerfen.«
    »Das Grab war leer, als wir die Erde reingekippt haben. Kommt dir das nicht auch komisch vor? Da ist doch etwas seltsam, da muss doch etwas passiert sein.« Vlad beugte sich vor, griff nach einer eingelegten Gurke.
    »Ein zweiter Jesus wird’s nicht sein«, lachte Serjoga. »Das glaub ich auch nicht«, kaute Vlad, und erklärte, dass es wohl eher etwas mit dem Lebenden- als mit dem Totenreich zu tun haben müsse.
    »Nein, ich mein: Jesuss«, Serjoga zischte wieder, »gibt’s nur einen. Aber vielleicht haben die bei der Totenfeier was falsch gemacht.« »Nein sie haben alles gemacht wie immer. Definitiv.« Vlad griff nach einem Bleistift auf dem Fensterbrett, listete die Riten der Reihe nach, die Reden
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher