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Der Pfeil der Rache

Der Pfeil der Rache

Titel: Der Pfeil der Rache
Autoren: C.J. Sansom
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der Brust, derb hingepinselt, die französische Lilie. Wieder eine Waffenschau, die dem Zwecke diente, unter den Londoner Burschen die Tüchtigsten auszuwählen und auf die verschiedenen Truppen entlang der Küste oder auf den königlichen Kriegsschiffen zu verteilen. Ich war heilfroh, dass ich mit meinen dreiundvierzig Jahren und dem Buckel vom Dienst an der Waffe befreit war.
    Ein rundlicher Reiter auf einer prächtigen grauen Stute sah zu, wie die Männer Haltung annahmen. Das Pferd, in den Farben der City of London drapiert, trug einen Kopfschutz mit Löchern für die Augen, der einem Totenschädel glich. Der Reiter saß im Halbharnisch zu Pferde, Arme und Oberleib in poliertem Stahl, an der breiten schwarzen Kappe eine Pfauenfeder wippend. Ich erkannte den ehrenwerten Ratsherrn Edmund Carver; zwei Jahre zuvor hatte ich einen Fall für ihn vor Gericht gewonnen. Er schien sich nicht recht wohl zu fühlen in seiner Rüstung, rutschte unbehaglich im Sattel hin und her. Er war ein Mitglied der Tuchhändlergilde und hatte eine besondere Schwäche für erlesene Tafelfreuden. Neben ihm standen zwei weitere Soldaten in der Uniform der Trained Bands; der eine hielt eine lange Messingtrompete in Händen, der andere eine Hellebarde. In der Nähe stand im schwarzen Wams ein Schreiber, das tragbare Schreibpult mit einem Packen Papier darauf vor den Bauch geschnallt.
    Der Soldat mit der Hellebarde legte die Waffe zu Boden und griff sich ein halbes Dutzend lederne Köcher. Alsdann lief er an der vordersten Reihe der Rekruten entlang und legte in einer Linie Pfeile auf dem Boden aus. Der verantwortliche Hauptmann behielt die Männer unterdessen abschätzend im Auge. Er war vermutlich ein Berufssoldat, wie jene, die vier Jahre zuvor den Königlichen Tross nach York begleitet hatten. Mittlerweile hatte er sich wohl den Trained Bands angeschlossen, einem Freiwilligenkorps, das einige Jahre zuvor in London gegründet worden war und an den Wochenenden das Soldatenhandwerk übte.
    Er rief mit lauter, weithin tragender Stimme: »Unser England braucht Männer, die es in der Stunde der größten Gefahr zu verteidigen wissen! Die Franzosen stehen kurz vor der Invasion, um unser Land mit Feuersbrünsten zu verwüsten und unsere Frauen und Kinder zu schänden. Doch erinnern wir uns an die Schlacht bei Azincourt!« Er hielt der dramatischen Wirkung wegen kurz in seiner Rede inne. »Hört, hört!«, rief Carver, und die Rekruten stimmten ein.
    Der Offizier fuhr fort: »Seit Azincourt wissen wir, dass ein jeder Engländer es mit drei Franzosen aufnehmen kann! Wir schicken ihnen unsere legendären Bogenschützen! Wer heute rekrutiert wird, erhält einen Harnisch und drei Pence pro Tag!« Sein Ton wurde hart. »Jetzt wollen wir sehen, welche Männer allwöchentlich geübt haben, wie es das Gesetz verlangt, und welche nicht. Letztere könnten stattdessen« – er machte erneut eine dramatische Pause – »den Pikenieren zugeteilt werden, wo sie den Franzmännern im Nahkampf gegenüberstehen! Glaubt also nicht, ihr könntet euch mit einer schwachen Leistung vor dem Kriegsdienst drücken.« Er ließ den Blick über die Männer schweifen, von denen manch einer unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. Etwas Grobes, Zorniges lauerte im schwarzbärtigen Gesicht des Offiziers.
    »Nun denn«, rief er. »Auf das Trompetensignal hin wird ein jeder, so schnell er kann, sechs Pfeile auf das Ziel abschießen. Wir beginnen links vorne. Wir haben eigens für euch eine Puppe gezimmert. Stellt euch vor, es sei ein Franzmann, der eure Mütter schänden will, falls ihr Mütter habt!«
    Ich warf einen verstohlenen Blick auf die schaulustige Menge. Ich sah aufgeregte Halbwüchsige und einige ärmlich gekleidete ältere Männer, doch auch etliche junge Frauen mit besorgten Mienen standen dabei, vielleicht die Ehefrauen oder Bräute der versammelten Schützen.
    Der Soldat mit der Trompete setzte das Instrument an die Lippen und stieß hinein. Der erste Schütze, ein hübscher, stämmiger Bursche in ledernem Wams, trat zuversichtlich mit seinem Langbogen vor. Er griff sich einen Pfeil und legte ihn ein. Dann neigte er geschmeidig den Oberkörper nach hinten, nahm sein Ziel ins Visier und entsandte in hohem Bogen einen Pfeil über das Feld, der sich mit Wucht in die Franzosenlilie auf der Vogelscheuche bohrte und diese erzittern ließ, als wäre Leben in ihr. In nur einer Minute hatte er weitere fünf Pfeile abgeschnellt, die allesamt die Puppe trafen. Heiseres
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