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Der Pfeil der Rache

Der Pfeil der Rache

Titel: Der Pfeil der Rache
Autoren: C.J. Sansom
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selbst kinderlos geblieben war, hatte sie ihr Leben ganz meinen Bedürfnissen gewidmet, hatte stets still, tüchtig und freundlich ihre häuslichen Pflichten verrichtet. Nachdem sie sich im Frühjahr das Schnupfenfieber zugezogen hatte, war sie binnen einer Woche verstorben. Ihr Ableben war umso schmerzlicher für mich, als es mir vor Augen führte, wie sehr ich in all den Jahren ihre hingebungsvolle Sorge für selbstverständlich erachtet hatte. Und der elende Mensch, der mir jetzt den Haushalt führte, machte mir den Verlust erst recht bitter.
    Ich seufzte und rappelte mich ungelenk wieder auf. Der Besuch an Joans Grab hatte mich zwar beruhigt, doch gleichzeitig in jene melancholische Stimmung versetzt, die mich von Zeit zu Zeit zu befallen pflegte. Ich schlenderte zwischen den Grabsteinen umher, denn hier ruhten noch andere Menschen, die ich gekannt hatte. Vor einem stattlichen Marmorstein hielt ich inne;
    Roger Elliard
    Barrister am Lincoln’s Inn
    Geliebter Ehemann und Vater
    1502–1543
    Ich entsann mich einer Unterhaltung zwischen Roger und mir, kurz vor seinem Tod vor zwei Jahren, und lächelte traurig. Wir hatten darüber gesprochen, wie der König das Vermögen, welches ihm mit der Auflösung der Klöster zugefallen war, auf Prunk und Pomp verschwendet und so gar keine Anstalten gemacht hatte, die ohnehin äußerst bescheidenen Zuwendungen zu ersetzen, welche den Bedürftigen seitens der Mönche zuteilgeworden waren. Ich ließ meine Hand über den Stein gleiten und murmelte: »Ach Roger, wenn du sehen könntest, in welchen Schlamassel er uns alle gebracht hat.« Eine alte Frau, die auf einem benachbarten Grab Blumen pflanzte, wandte den Kopf, ein furchtsames Stirnrunzeln im faltigen Gesicht beim Anblick des Buckligen, der da stand und mit einem Toten Zwiesprache hielt. Ich trollte mich.
    Etwas weiter vorn befand sich noch ein Gedenkstein, den ich hier hatte errichten lassen. Die Inschrift darauf war kurz:
    Giles Wrenne
    Barrister zu York
    1467–1541
    Diesen Gedenkstein berührte ich nicht, wandte mich auch nicht an den alten Mann im Grab, musste jedoch unweigerlich daran denken, auf welche Art Giles gestorben war, und sah ein, dass ich tatsächlich einer düsteren Stimmung Vorschub leistete.
    Im selben Moment erschreckte ein jähes Brüllen mich fast zu Tode. Die Alte starrte mit weit aufgerissenen Augen um sich. Ich ahnte, woher der Lärm gekommen war, trat an die Mauer, die den Kirchhof von den Lincoln’s Inn Fields trennte, und öffnete die hölzerne Pforte. Ich schritt hindurch und sah, was vor sich ging.
    * * *
    Lincoln’s Inn Fields war ein freies Feld, auf dessen grasbewachsenem Hügel, Coney Garth, die Studenten der Juristerei wilde Kaninchen jagten. Normalerweise waren dort an einem Werktag nur wenige Menschen unterwegs. Heute jedoch hatte sich eine Menge Volk versammelt, um fünfzig jungen Burschen zuzujubeln, die meisten in Hemden und Wämsern, einige jedoch in den blauen Kitteln der Lehrlinge, die in fünf ungeordneten Reihen standen. Manche blickten griesgrämig drein, andere argwöhnisch, wieder andere voller Eifer. Die meisten hatten Langbögen geschultert, wie sie Männer im wehrtüchtigen Alter dem Gesetze nach besitzen mussten, um sich im Bogenschießen zu üben. Viele entzogen sich freilich dieser Regel und vertrieben sich die Zeit lieber mit Kegeln, Würfeln oder Kartenspielen, obschon derlei Vergnügungen mittlerweile den Männern von Stand vorbehalten waren. Die Bögen maßen zwei Schritt, waren in den meisten Fällen also größer als ihre Eigentümer. Einige Männer jedoch hatten kleinere Bögen bei sich, aus minderwertiger Ulme anstatt aus Eibenholz. Fast alle trugen eine lederne Schiene an dem einen Arm und einen Fingerschutz am anderen. Die Bögen gespannt, standen sie da.
    Die Männer wurden von einem Soldaten mittleren Alters in Zehnerreihen geordnet. Der Mann hatte kantige Züge, einen kurzen schwarzen Bart und eine Miene von missbilligender Strenge. In der Uniform der Londoner Trained Bands – weißes Wams, Ärmel und Pluderhose geschlitzt, so dass das Futter hervorblitzte, dazu ein runder, polierter Helm – bot er einen stattlichen Anblick.
    Über zweihundert Schritt entfernt ragten die sechs Fuß hohen, grasbedeckten Erdhügel auf, die als Ziele dienten. Hier sollten sich Burschen im wehrfähigen Alter an den Sonntagen im Bogenschießen üben. Aus zusammengekniffenen Augen erspähte ich eine Strohpuppe, in Lumpen gekleidet, auf dem Kopfe einen zerbeulten Helm und auf
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