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Der Opal

Der Opal

Titel: Der Opal
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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Anzugskontrollen. Der langsame Flug durch die ganze Spindel, immer noch getrieben von dem Druck der Explosion, die sie durch die Inspektionskanzel hindurchgeschossen hat. Die allerersten Gedanken, die in den noch funktionsfähigen Teilen ihres Gehirns zusammengebaut werden, kleine Teile aus Plastik mit Steckverbindungen, löchrige Netze aus diesen kleinen Teilen. Der zweite Aufprall. Das zerberstende Helmvisier. Das heiße Blei der Schmerzen, das ihr ins Gesicht gespritzt wird, und ihr Schrei, der nur so lange hörbar ist, wie sich Luft in ihrem Anzug befindet. Das Zischen. Sie spürt, wie die Luft entweicht. Nur langsam arbeitet sich die Bewusstlosigkeit vor. Das ist es, denkt Latil, das ist es, während sie so laut schreit, wie sie nur kann, und doch immer leiser wird, weil die Luft aus ihrem Anzug entweicht. Dann beginnt das Wasser auf ihrer Zunge zu kochen. Ein eigenartig prickelndes Gefühl. Dass sie noch lebt, begreift sie immer erst, wenn sie die Königin erkennt, kalt und schön wie bei ihrer nackten Audienz.
    »Wenn du mich hören kannst, heb deinen rechten Arm«, befiehlt ihr die Königin.
    Latil hebt ihren rechten Arm, und es tut erstaunlich weh.
    »Du hast deinen Unfall überlebt. Wir haben dir ein neues rechtes Auge einsetzen müssen. Verstehst du mich?«
    Latil hebt ihren rechten Arm.
    »Ich schenke dir etwas«, sagt die Königin und hält ein schmales Paket in der Hand, das Latil erst später als die gestapelten Bewusstseinsplatten erkennt. »Das ist alles«, sagt die Königin. »Komm nie wieder her.«
    Jemand gibt ihr einen Spiegel. Ihr rechtes Auge ist braun. Braun wie das Braun der Augen Henans.
    Immer und immer und immer wieder.
     
    Die Bewusstseinsplatten waren bis auf das Inhaltsverzeichnis leer.
    Und natürlich nicht nur die Spindel, sondern auch der Hort. Sie wunderte sich immer, wie blass die Erinnerungen daran mittlerweile geworden waren, als handele es sich bei ihnen um Kunstprodukte, ihr aufgeprägte Erinnerungen, die in keinerlei innerer Beziehung zu ihrer Biographie standen. Selbst auf den nadelspitzen Gipfeln der Psychose, die über die Sphäre atembarer Luft weit hinausragten und auf denen sie sich schreiend die Füße zertanzte, war sie sich der Tatsache bewusst, dass die Erinnerungen an den Hort nicht blass hätten sein sollen. Ein voll synthetisierter Satz Gene, künstlich geformte Chromosomen, Mitose, Meiose, Morula und das ganze Programm. Retro in vitro. Die Produktionsstätten waren immer nur ›die Fabrik‹, die kleinen luftigen Häuser, aus denen der Hort bestand, nur ›das Dorf‹, der betonierte Halbkreis beim Dorf nur ›der Hafen‹ und schließlich die Ahnungen einer Zwölf-, Dreizehn- und Vierzehnjährigen nur ›Träume‹. Bis zum Schluss hatten sie es geleugnet. Und das, obwohl es einen unübersehbaren Hinweis darauf gab, dass im Hort etwas nicht stimmte: Niemand außer den Eltern war über sechzehn. »Dumme Ideen«, hatte ihre ›Mutter‹ gemurmelt, wenn sie danach gefragt wurde. Latil hatte Mühe, schmerzhafte, unendliche Mühe, sich das Gesicht ihrer Leihmutter in Erinnerung zu rufen, und doch war sie es gewesen, die sie geboren hatte; auf echte Geburten verzichtete ein Hort nie. Es sollte alles natürlich einhergehen, naturidentisch, naturnah. Hortkinder aßen grundsätzlich vegetarisch, zogen Kleider aus Naturfasern an, spielten mit Spielzeug aus dem Holz der allgegenwärtigen Jagabäume. (›Jaga‹ hieß im lokalen Standard-Dialekt ›Spielzeug‹.) Das Gesicht ihres Vaters war noch verblasster als das ihrer Mutter. Sie hätte sich gewünscht, von diesem hodenlosen Dauerlächler doch wenigstens einmal geschlagen zu werden, aber die Engelssanftheit der Horteltern ließ das nicht zu. Horteltern waren bessere Eltern, sie waren professionell, naturidentisch, stumm. Sie hätte dringend Antworten gebraucht. Zum Beispiel auf die Frage, warum sie hässlich war, während alle anderen schön waren. Schön sein war billig im Hort, Engel wurden dort im Dutzend gemacht. Sie hätte bestraft, geschlagen, verachtet werden wollen für ihre Hässlichkeit, für ihr rohes Gesicht, für ihren jungenhaften Körperbau, die sie als Normabweichung erkannte. Als Andersartige verfolgt zu werden hätte sie verstanden, aber die schreckliche Friedfertigkeit des Horts ließ das nicht zu. Keine Reibung, kein Aufstand, keine Antwort, kein Kampf.
    Ihre Pubertät begann und endete in dem Augenblick, als ihr Vater sie für den Transport vergiftete. Er kam abends in ihr Schlafzimmer, wie er es
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