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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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K ompositbild, optisch verschlüsselt durch die Begleitmaschine des Transkanal-Luftschiffes Lord Brunel. Luftaufnahme eines Vororts von Cherbourg, am 17. Oktober 1905.
    Eine Villa, ein Garten, ein Balkon.
    Hinter dem geschwungenen gusseisernen Balkongeländer sind ein Rollstuhl und seine Insassin zu sehen. Widerspiegelungen des Sonnenuntergangs glänzen von den vernickelten Radspeichen des Rollstuhls.
    Die Insassin, Eigentümerin der Villa, lässt ihre arthritischen Hände auf einem Stoff aus Jacquardgewebe ruhen.
    Diese Hände bestehen aus Sehnen, Haut, Gelenken. Die lautlosen Prozesse der Zeit und des Alterns im menschlichen Zellgewebe haben die Frau gezeichnet.
    Ihr Name ist Sybil Gerard.
    Unter ihr, in einem vernachlässigten Garten, überziehen entblätterte Ranken hölzerne Spaliere an weiß getünchten, abblätternden Wänden. Aus den offenen Fenstern ihres Krankenzimmers strömt warme Zugluft, bewegt das lose weiße Haar in ihrem Nacken und verbreitet Gerüche von Kohlenrauch, Jasmin, Opium.
    Ihre Aufmerksamkeit gilt dem Himmel, einem Umriss von überwältigender und unwiderstehlicher Anmut – Metall, das in ihrer Lebenszeit fliegen gelernt hat. In der Vorhut dieser Herrlichkeit schweben, steigen und sinken winzige unbemannte Flugzeuge vor dem roten Horizont.
    Wie Stare, denkt Sybil.
    Die Lichter des Luftschiffes, eckige goldene Fenster, deuten auf menschliche Wärme hin. Mühelos, mit der unvergleichlichen Anmut organischer Funktion, stellt sie sich dort eine ferne Musik vor, die Musik Londons: Die Passagiere promenieren, trinken, flirten, tanzen vielleicht.
    Ungebetene Gedanken stellen sich ein, der Geist webt seine Perspektiven, fügt aus Gefühl und Erinnerung Bedeutung zusammen.
    Sie erinnert sich ihres Lebens in London. Erinnert sich, wie sie vor so langer Zeit den Strand entlangging, sich durch das Gedränge ihren Weg suchte. Die Stadt der Erinnerung umschließt sie im Weitergehen – bis, bei den Mauern von Newgate, das Bild ihres erhängten Vaters einen Schatten wirft …
    Und die Erinnerung wendet sich, rasch wie ein Lichtstrahl abgelenkt, in einen anderen Nebenweg – einen, wo immer Abend ist …
    15. Januar 1855.
    Zimmer in Grand’s Hotel, Piccadilly.
    Ein Stuhl war rückwärts gekippt und fest unter den Türknopf aus geschliffenem Glas verkeilt. Ein anderer war mit Kleidungsstücken behängt: einem fransenbesetzten Überwurf, einem schmutzverkrusteten langen Frauenrock aus schwerem Kammgarn, einer karierten Herrenhose und einem Herrenrock mit abgerundeten Vorderschößen.
    Zwei Gestalten lagen unter der Decke im Himmelbett aus laminiertem Ahorn, und fern im eisernen Griff des Winters bellte Big Ben zehn Uhr, gewaltige heisere Töne wie von einer Dampfpfeifenorgel. Der kohlenbefeuerte Atem Londons.
    Sybil schob ihre Füße durch eisige Leinenlaken zur Wärme der Keramikwärmflasche in ihrer Flanellumhüllung. Ihre Zehen streiften sein Schienbein und die Berührung schien ihn aus tiefem Nachdenken aufzuschrecken. So war er, dieser Stutzer Mick Radley.
    Sie hatte Mick Radley in Laurent’s Ballhaus unten an der Windmill Street kennengelernt. Nun, da sie ihn etwas näher kannte, schien er ihr mehr der Typ für Kellner’s am Leicester Square zu sein, oder sogar für die Portland Rooms. Ständig überlegte er, schmiedete Pläne, murmelte über etwas, was in seinem Kopf vorging. Gerissen. Es machte ihr Sorgen. Und Mrs. Winterhalter hätte es nicht gebilligt, denn der Umgang mit »politischen Herren« erforderte Delikatesse und Diskretion, Eigenschaften, über die Mrs. Winterhalter nach eigener Ansicht reichlich verfügte, während sie ihren Mädchen nichts davon zubilligte.
    »Kein Anschaffengehen mehr, Sybil«, sagte Mick. Eine seiner Erklärungen, etwas, worüber sein schlauer Verstand sich klar geworden war.
    Sybil grinste zu ihm auf, das Gesicht halb unter dem warmen Rand der Decke versteckt. Sie wusste, dass er dieses Grinsen mochte. Ihr Böses-Mädchen-Grinsen. Das kann nicht sein Ernst sein, dachte sie. Mach einen Spaß daraus. »Aber wenn ich kein schlechtes Flittchen wäre, würde ich dann hier mit dir sein?«
    »Du sollst nicht mehr Gesindel spielen.«
    »Du weißt, dass ich nur mit Herren gehe.«
    Mick schnupfte, erheitert. »Dann nennst du mich einen Herren?«
    »Einen sehr glänzenden Herren«, erwiderte Sybil, die ihm schmeicheln wollte. »Einer nach meinem Geschmack. Du weißt, dass mir an den Lords der Radikalen nichts liegt. Ich spucke auf sie, Mick.«
    Sybil erschauerte, aber nicht
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