Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Opal

Der Opal

Titel: Der Opal
Autoren: Marcus Hammerschmitt
Vom Netzwerk:
Fingern an ihrem Rücken entlangstreifend. »Was hat er nur an dir gefunden, du kahles Huhn?«
    Henan ist weg, war das Einzige, was Latil in diesem Moment denken konnte, trotz der Lebensgefahr. Nach einer angemessenen Zeit befahl ihr die Königin, sich wieder anzuziehen.
     
    »Latil«, sagte das Schiff.
    »Lass mich in Ruhe«, sagte Latil und drehte sich um. Einfühlsamkeit um Mitternacht, das fehlte ihr gerade noch.
    »Brauchst du Medizin? Du bist sehr heiß. Hast du Fieber? Ich kann dir Medizin machen, wenn du willst.«
    »Glaucopsyche, lass mich in Ruhe.«
    »Ich heiße jetzt Ergriffenes Dasein. Wie gefällt dir – «
    »Ich schlafe!«, schrie Latil. »Sei still! Du Miststück! Sei endlich still!«
    Latil bedauerte ihre Worte, schon während sie sie aussprach. Jetzt würde sich das Schiff Notizen machen. Es würde damit beschäftigt sein, ihre Reaktion zu bewerten. Es würde sie ausforschen.
    »Es tut mir Leid wegen vorhin«, sagte das Schiff.
    »Ja. Lass mich jetzt in Ruhe.«
    Wie üblich grübelte sie noch eine Weile über der Frage, warum Henan nie mit ihr geschlafen hatte.
     
    Die Psychose kam am dritten Normaltag im Tunnel. Latil versuchte eine Zeit lang, die Krankheit durch Gespräche mit dem Lexikon aufzuhalten, aber sein Therapeutenmodus wusste auf ihre Antworten keine Fragen. Den beharrlichen Zugriffen des Schiffes verweigerte sie sich so lange wie möglich. Im Trainingsraum schlug sie sich die Fäuste blutig. Sie stemmte so lange Gewichte, bis ihr die Hantel entglitt und ihr beinahe den Kehlkopf eindrückte. Sie kaute ihre Fingernägel ab. Sie würde heruntergestuft werden. Sie redete überhaupt nur deswegen mit dem Lexikon, weil sie dem Schiff nicht zu viel Einblick in ihr Innenleben bieten wollte. Möglicherweise war es gleichgültig, mit wem sie redete, denn das Schiff mochte zwar jung sein, war aber auch sehr schlau, und einen Freund elektronisch auszuhorchen, war wahrscheinlich für ein Sayakh-Schiff kein Problem. Die Fähigkeiten des Lexikons als Therapeut waren sehr beschränkt, obwohl es mit vielen erfolgreichen ›Sitzungen‹ und ›Notfallinterventionen‹ angegeben hatte. Latil fand es schon grotesk, dass sie selbst die Maschine anschalten und in den richtigen Modus bringen musste. Warum heilte sie sich dann nicht selbst? – Das Lexikon fragte immer wieder: »Warum glaubst du, keine Eltern zu haben?«, wenn Latil ihm davon erzählte, wo sie synthetisiert und aufgezogen worden war, und schließlich gab sie es auf. Sie kapitulierte. Irgendwann im Tunnel kam die Psychose, so war es nun einmal. Diesmal fing es damit an, dass sie immer wieder den gleichen Satz sagte. »Nur Menschen überall.« Als sie es zwanzigmal gesagt hatte, wusste sie noch, was sie damit meinte. Die Aussage bezog sich im Wesentlichen auf die Tatsache, dass das ganze bekannte Universum nur von Menschen und ihren Produkten bewohnt war, dass in all den Hunderten von Jahren der Raumfahrt nie etwas anderes entdeckt worden war als neue Planeten und neue Sterne.
    Als sie etwa eintausendmal »Nur Menschen überall« gesagt hatte, war ihr der Sinn der Worte völlig verloren gegangen. Sie musste den Satz aber immer noch wiederholen. Sie hörte jetzt auch ständig ein Geräusch, ein Zischen, das von der Scheitelnaht ihres Schädels zu kommen schien, aber was zischte da? Latil suchte nach etwas, womit sie sich Schmerz zufügen konnte. Sie wanderte ruhelos durch das Schiff und konnte nichts finden. Als sie dieses Problem lösen wollte, indem sie sich mit den Zähnen die Haut über den Knöcheln ihrer rechten Hand wegriss (sie saß gerade auf ihrem Bett und das Blut tropfte in die Kissen), kam Henan in ihr Schlafzimmer. Sie hatte ja gewusst, dass er kommen würde. Er sah gelassen aus, fröhlich, Vertrauen erweckend. Latil wollte sich nicht von dem Schmerz an ihrer Hand ablenken lassen, aber sie musste Henan ansehen, als er auf sie zukam. Er roch gut nach sich selbst. Er hielt ihr etwas unter die Nase.
    »Ich betäube dich jetzt«, sagte er.
    Blaue Schwärze.
     
    Erstaunlicherweise sieht sie sich immer gleichzeitig von innen und von außen. Dem ersten Aufprall hält das Visier noch stand, nur ihr Gesicht wird zermatscht. Das Visier hält, aber nicht das Glas der Inspektionskanzel. Die Zeit wird geloopt, in langsamen Schleifen. Das Aufblühen des Glases in den luftleeren Hohlraum der Spindel hinein. Ihr nachdrängender Körper, wie ein unförmiger und flügelloser Schmetterling, der aus der Puppe austritt. Das hysterische Fiepen ihrer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher