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Der Nächste, bitte! 13 Morde fürs Wartezimmer

Der Nächste, bitte! 13 Morde fürs Wartezimmer

Titel: Der Nächste, bitte! 13 Morde fürs Wartezimmer
Autoren: Ilse Wenner-Goergen
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kennen zu lernen“, hatte die Stauch erklärt, „um ihnen einen Charakter zu geben und ihre Motivation erklärbar zu machen“. Als ob Paul seine Pappenheimer nicht kannte!
    Auch der Anfang seiner Geschichte stand bereits: Ein frisch verliebtes Paar wird vom gehörnten Mann der jungen Frau in flagrante delicto erwischt und muss vor ihm fliehen, da er seine Eifersucht nun nicht mehr unter Kontrolle hat. Hatte er doch lange schon geahnt, dass da etwas läuft! Der Gehörnte meldet seine Frau noch am gleichen Abend bei der Polizei als vermisst. Das Gleiche tut die Mutter ihres Geliebten. Die beiden sind wie vom Erdboden verschluckt. Großes Rätselraten in der geschwätzigen Nachbarschaft, man zeigt öffentlich Mitleid mit dem verlassenen Ehemann. Die Bevölkerung sowie die Polizei gehen davon aus, dass die beiden miteinander durchgebrannt sind, um irgendwo anders gemeinsam ein neues Leben beginnen zu können. Soweit der aktuelle Ermittlungsstand. Soweit der bisherige Fortgang von Pauls Geschichte. Paul war zufrieden. Doch nun sollte es weitergehen in seiner Geschichte. Nun sollte der Leser erfahren, wo die Draufgänger sich aufhielten. Beim Niederschreiben dieser Szene rief Paul sich alle schriftstellerischen Regeln ins Gedächtnis, die hängen geblieben waren, und er versuchte, sie nach bestem Wissen einzusetzen. Frau Stauch sollte zufrieden sein mit ihm.
     
    „Scheußlich, was Sie Ihren Protagonisten da zumuten“, war jedoch alles, was die Dame ihm zugestand. ‚Schade’, dachte Paul daraufhin nur, ‚sie will mich nicht verstehen.’
    Heute hatten sie gelernt: ‚Du sollst die inneren und äußeren Herausforderungen des Lebens mit Ehrlichkeit, Integrität und ernsthafter Überlegung behandeln und einfache oder keine Antworten sowie Gefühlsduselei vermeiden.’
    Wenn seine Arbeit nicht die Herausforderungen des Lebens ernsthaft und kritisch auf den Punkt brachten, dann wollte er auf der Stelle tot umfallen!
    Paul fiel nicht tot um. Er ging nach Hause und holte sich wie üblich im Keller ein Bier. Dabei betrachtete er eine Weile den alten Sekretär, der hier unten seine Rettung vor dem Sperrmüll gefunden hatte. Kurzerhand schob er ihn ein Stück beiseite und lugte durch das kleine Loch, das sich dahinter befand. Schon in seinen Kindertagen hatte Paul es geliebt, einen Blick in die Dunkelkammer dahinter zu werfen und sich dabei die schauerlichsten Geschichten auszudenken, mit denen es ihm immer gelungen war, bei seinen Freunden Eindruck zu schinden. Zwischenzeitlich roch es recht unangenehm von dort. Er zog seine Nase wieder zurück. Dennoch fühlte Paul sich auch heute inspiriert und machte sich gleich darauf mit Feuereifer an den Fortgang seiner Geschichte.
    Doch wieder erntete er nur abfällige Blicke von seiner Lehrmeisterin Stauch. „Das wird ja immer skurriler bei Ihnen. Mir ist nicht einmal mehr klar, wer die Pro- und wer die Antagonisten sind. Man könnte meinen, Sie sympathisieren mit dem Täter“, war alles, was sie zu seinem Werk sagte und sie hatte nicht einmal Unrecht. Skurril war es in der Tat. Beim heutigen Gang in den Keller schob Paul seinen beiden Gefangenen jeweils eine Flasche Bier durch den Mauerspalt. Und genau das schrieb er kurze Zeit später auch auf und fragte sich im selben Moment nach der Motivation seiner Handlung. Die Antwort lag klar auf der Hand: Er wollte sie quälen. Er wollte Macht demonstrieren und sich in der Angst der beiden suhlen. Sie sollten leiden, wie er gelitten hatte. So lange wie möglich. Er wollte sich rächen für die Hörner, die sie ihm aufgesetzt hatten.
    ‚Lebendiger kann eine Geschichte gar nicht sein’, sagte er sich, als er am nächsten Tag eine warme Brühe und ein paar Stück Brot durch den kleinen Spalt reichte. Immer, wenn sie bei diesen Gelegenheiten versuchten, mit ihm zu reden, schob er schnell den dicken Stein zurück an seinen Platz und den Sekretär vor. Dann hatte er wieder etwas zu schreiben.
    „Der Schluss einer Geschichte ist einer der wichtigsten Teile. Garry Disher lehrt uns hier: ‚Du sollst die Wahrhaftigkeit deiner Arbeit wertschätzen: Einer Geschichte einen pompösen Schluss aufzupfropfen, wo eigentlich ein anderer verlangt ist, ist ein Betrug an deinem Werk, deinen Lesern und dir selbst.’ Wichtig ist also, dass der Schluss schlüssig im wahrsten Sinne des Wortes ist. Dass er den Leser befriedigt.“
    Das Wort „befriedigt“ ließ Paul zusammenzucken. Ja, das war es! Er hatte eine schöne Geschichte geschrieben, wie er fand,
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