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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler
Autoren: Sebastian Fitzek
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Wohnung bezog.

43.
    E s ist unglaublich«, sagte der junge Mann und stellte einen Umzugskarton neben das Bett.
    »Nicht wahr, Liebling?« Die Frau, noch jünger, ließ sich mit einem vielsagenden Lächeln aufs Bett fallen. Ihr Freund tat es ihr gleich und küsste sie auf die vollen Lippen.
    »Ich kann selbst noch gar nicht fassen, dass wir diese Traumwohnung bekommen haben.«
    »Ich auch nicht.«
    Er schob seine Hand unter ihre Bluse, und sie kicherte. »Schön«, sagte er und beugte sich verliebt über sie.
    »Ja, sie ist schön.«
    »Ich meine nicht die Wohnung.«
    »Sondern?«
    »Es ist schön, dass du endlich wieder lachst.«
    Er küsste sie, dann sagte er mit hoffnungsvoller Stimme: »Ich glaube, hier wird alles wieder gut.«

Epilog
    U nmöglich, durch dieses Tuch etwas erkennen zu können. Sven hatte die Augenbinde viel zu fest gezogen. Sobald Leon sie abnahm, sah er bestimmt aus, als wäre er gerade erst aufgewacht, mit müde blinzelnden Augen und Schlaffalten im Gesicht.
    »Wohin führst du mich?«
    Er hielt sich mit beiden Händen an den Schultern seines Freundes fest, der in den letzten Monaten sein wichtigster Vertrauter geworden war. Viele Ärzte hatten ihn angefragt, darunter namhafte Persönlichkeiten, um mit ihm gemeinsam die traumatischen Erlebnisse der jüngeren Vergangenheit aufzuarbeiten, aber aus naheliegenden Gründen wollte Leon in seinem Leben nichts mehr mit Psychiatern zu tun haben.
    »Wie lange denn noch?«, fragte er ungeduldig. Die blinde Polonaise zehrte an seinen Nerven. Noch vor wenigen Wochen wäre es für ihn undenkbar gewesen, sich einem anderen Menschen derart auszuliefern, aber seitdem sie die neue Wohnung bezogen hatten, machte er täglich Fortschritte.
    »Wir sind gleich da.«
    Das hast du schon vor fünf Minuten gesagt, als wir aus dem Auto gestiegen sind.
    Der Weg führte sie sanft, aber stetig bergan. Leon spürte die Sonne im Gesicht, hörte Musik aus dem Radio eines vorbeifahrenden Wagens, und seine Nase kribbelte, ein sicheres Zeichen, dass blühende Kastanienbäume den Bürgersteig säumten. Der Duft warmen Asphalts lag in der Luft.
    »Ich hasse Überraschungen.«
    »Dann solltest du deinen Geburtstag abschaffen«, entgegnete Sven trocken.
    Leon dachte darüber nach, was für ein Bild sie abgaben. Einige Passanten, die ihnen entgegenkamen, unterbrachen ihre Unterhaltungen, kicherten, machten dumme Bemerkungen ( »Hübsches Pärchen«. »Viel Spaß euch beiden«) oder tuschelten Unverständliches hinter ihrem Rücken, sobald sie vorbeigezogen waren.
    Nachdem Sven ihn noch zweimal um eine Ecke und dann eine lange Strecke geradeaus geführt hatte, waren sie anscheinend am Ziel und blieben stehen.
    »Na endlich.«
    Er wollte den engen Knoten hinter dem Kopf lösen, aber Sven fiel ihm in den Arm.
    »Halt, erst muss ich dir noch etwas Wichtiges sagen.«
    »Und das wäre?«
    »Mein Geschenk wird dir nicht gefallen.«
    »Wie bitte?«
    Leon blinzelte unter der Augenbinde. Noch irritierender als Svens Geheimnistuerei war der Umstand, dass sein Freund wieder zu stottern begonnen hatte, wenn auch kaum merklich.
    »Sie sagen, es ist zu früh, aber ich habe Angst, dass es vielleicht schon viel zu spät ist.«
    Mit diesen Worten drückte Sven ihm etwas in die Hand, was sich wie ein heißes Wasserglas anfühlte. Leon konnte es nur mit spitzen Fingern anfassen, wenn er sich nicht verbrennen wollte.
    »Was zum Teufel …?« Er riss sich die Binde vom Kopf und staunte, was da in seiner Hand flackerte. »Du schenkst mir ein Teelicht?«
    Sven schüttelte den Kopf. »Nein. Ich schenke dir einen Blick.«
    »Worauf?«
    »Auf die Wahrheit.«
    Er folgte der Bitte, sich umzudrehen, und hätte beinahe das Glas fallen lassen.
    Vor seinen Augen tanzte ein Lichtermeer, gespeist aus zahlreichen Kerzen und weiteren Teelichten, die auf den Stufen einer Treppe abgestellt waren.
    »Soll das ein Witz sein?«, fragte Leon und wünschte sich, er hätte die Augenbinde nie abgenommen.
    Die Ansammlung von Briefen, Plüschtieren, Blumen und Bildern, die teilweise gerahmt, meist aber in Klarsichtfolie gehüllt waren, wirkte völlig fehl am Platz. Hier war kein Straßenrand, an dem sich ein Unfall ereignet hatte. Sie standen nicht vor der Zufahrt zu dem Anwesen eines Prominenten, dessen unerwarteter Tod von seinen Fans beklagt wurde. Die Manifestation kollektiver Trauer gehörte in die Abendnachrichten und nicht vor den Eingang des Mietshauses, aus dem Leon vor ein paar Monaten nackt auf die Straße geflohen
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