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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler
Autoren: Sebastian Fitzek
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Ungetüm überhaupt noch funktionierte. Die Spulen der VHS-Bänder knackten bei jeder Umdrehung wie ein schlecht geöltes Zahnrad.
    »Sie haben unsere alten Bänder aufgehoben?«, fragte Volwarth erstaunt, als er die ersten Bilder sah. Er hatte sie Leon bei seiner letzten Sitzung mitgegeben, als Abschlussgeschenk der erfolgreichen Therapie.
    »Das ist ja ein Ding.«
    Volwarth war aufgestanden und stand jetzt direkt neben Leon, den Blick auf den Bildschirm gerichtet.
    Die verrauschten, leicht gelbstichigen Aufnahmen zeigten Leons elfjähriges Gesicht in Großaufnahme. Damals war er noch pausbäckig und etwas pummelig gewesen, lange nicht so schlank wie heute. Er saß kerzengerade im Pyjama auf der Kante eines Bettes in einem Kinderzimmer. Die Bettwäsche zeigte die Wappen eines populären Fußballvereins, und auf dem Kleiderschrank im Hintergrund klebte ein Poster von Michael Jackson. Beides hatte er sich nicht selbst ausgesucht. Ebenso wenig wie das Bett, das Zimmer oder die Pflegeeltern, in deren Betreuung er gegeben worden war. Es waren bereits die zweiten, die es mit ihm versuchten. Aber die ersten, die einen Arzt einschalteten, um seinen Problemen auf den Grund zu gehen.
    »Du weißt, was wir heute Nacht mit dir vorhaben, Leon?«, fragte Volwarth auf dem Band. Selbst seine Stimme klang heute noch genauso wie damals. Der Psychiater war nicht zu sehen, er stand hinter der Kamera, in die der kleine Leon nervös blinzelte. Seine Augen waren rotgerändert, er wirkte todmüde, weil er schon die dritte Nacht in Folge nur wenige Minuten geschlafen hatte, aber er nickte.
    »Es ist ein Experiment, das wir bislang noch nie mit einem Kind deines Alters durchgeführt haben. Völlig harmlos, dir kann nichts passieren. Ich will nur, dass du Folgendes weißt: Hier geschieht nichts gegen deinen Willen. Du kannst mir ehrlich sagen, wenn du das lieber doch nicht willst.«
    »Nein, ist schon gut. Es tut ja nicht weh oder so?«
    »Nein«, lachte Dr. Volwarth gutmütig. »Vielleicht wird es etwas drücken, wenn du dich hinlegst, aber wir haben alles gut abgepolstert.«
    Mit diesen Worten trat der Psychiater ins Bild. Für einen Moment verdeckte sein Rücken die Sicht, dann konnte man erkennen, wie Volwarth Anstalten machte, etwas auf dem Kopf des Jungen zu befestigen. Als er wieder zur Seite trat, verlief ein glänzender Metallring über Leons Stirn. An dem Ring war ein faustgroßer Gegenstand befestigt, der entfernt an eine Grubenlampe erinnerte.
    »Das Ding auf deinem Kopf ist eine funkgesteuerte Schlafkamera«, erklärte Volwarth mit ruhiger Stimme.
    »Und sie filmt alles, was ich im Traum so mache?«
    »Ja. Sie ist bewegungsaktiv, das heißt, sie springt an, sobald du aufstehst. Auf die Kopfelektroden zur Messung deiner Hirnströme, Muskel- und Augenbewegungen verzichten wir ausnahmsweise. Es gibt keine Kabel, du kannst dich also völlig frei bewegen. Nur tu mir bitte einen Gefallen.«
    »Ja?«
    »Die ist die einzige, die wir im Institut besitzen, und war schweineteuer. Also bitte geh damit nicht duschen.«
    Leon lächelte, aber seine Augen blieben traurig. »Ich weiß doch nicht, was ich alles anstelle, wenn ich schlafe. Ich kann mich ja nie erinnern.«
    »Genau deshalb wirst du diese Schlafkamera heute Nacht tragen.«
    »Und wenn ich wieder etwas Böses tue?«
    Volwarth runzelte die Stirn. »Was heißt denn wieder? Darüber haben wir doch ausführlich gesprochen, Leon. Du bist Nachtwandler. Davon gibt es Tausende in unserem Land, das ist nichts Schlimmes.«
    »Und wieso wollten die Molls dann, dass ich gehe?«
    In diesem Augenblick, Jahre, nachdem er diese Worte zum ersten Mal ausgesprochen hatte, musste Leon unwillkürlich blinzeln. In seinem Magen stiegen unangenehme Blasen auf.
    Moll.
    Zu viele unbewältigte Erinnerungen waren mit diesem Namen verknüpft. Heute wusste er, dass seine ersten Pflegeeltern keine Schuld traf. Leon verstand, weshalb sie ihn hatten loswerden wollen, auch wenn er sich zu der Zeit, aus der die Bänder stammten, wie ein unerwünschtes Haustier gefühlt hatte, das man ins Tierheim zurückbringt, weil es nicht stubenrein ist.
    »Frau Moll meinte, ich wäre ein Mörder. Sie hat es mir ins Gesicht geschrien.«
    »Weil deine Pflegemama Angst hatte. Du weißt selbst, was sie gesehen hat. Das hätte dir auch einen Schrecken eingejagt, oder, Leon?«
    »Ich glaub schon.«
    »Siehst du, das ist eine ganz natürliche Reaktion. Wenn man im Schlaf wandelt, wirkt man auf andere wie ein Gespenst. Aber man ist nicht
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