Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler
Autoren: Sebastian Fitzek
Vom Netzwerk:
also vor etwa einem Jahr.«
    »Aber dennoch hat sie Sie verlassen?«
    »So hat es zumindest den Anschein.«
    Leon fasste die merkwürdigen Vorkommnisse für Dr. Volwarth zusammen, der mit fortschreitenden Ausführungen sichtbar aufgeregter wurde, bis er schließlich in die Hände klatschte und Leon das Wort abschnitt: »Ganz gleich, was Sie sagen, ich glaube nicht, dass Sie Ihrer Frau im Schlaf etwas angetan haben.«
    »Aber möglich wäre es.«
    Volwarth machte eine abwiegelnde Handbewegung und schnalzte mit der Zunge. »Theoretisch schon, na klar. In den Jahrzehnten, in denen ich jetzt Parasomnien erforsche und behandle, ist mir beinahe alles untergekommen: Menschen, die in der Tiefschlafphase ihre Wohnung putzen, Nachtwandler, die mit ihrem Partner sinnvolle Dialoge führen und sogar Fragen beantworten. Ich hatte Patienten, die in der Nacht Wäsche gewaschen und sogar komplizierte Geräte bedient haben. In einem Fall hat ein Marketingleiter ganze Vorträge in den Computer getippt und via E-Mail an seine Mitarbeiter geschickt. Ein anderer ist schlafend ins Auto gestiegen und dreiundzwanzig Kilometer weit in den Nachbarort gefahren …«
    »… um dort seine Schwiegermutter mit dem Küchenmesser zu erstechen«, ergänzte Leon.
    Volwarth verzog bedauernd die Mundwinkel. »Leider ja. Der Fall von Kenneth Parks ist ausführlich durch die Presse gegangen und war tatsächlich keine Erfindung eines Horrorfilmregisseurs.«
    »Also gibt es Menschen, die im Schlaf gewalttätig werden«, beharrte Leon.
    »Ja. Aber das betrifft nicht mal einen von tausend Nachtwandlern.«
    »Und was macht Sie so sicher, dass ich nicht dieser eine bin?«
    Volwarth setzte eine professorale Miene auf und nickte, als wäre Leon ein Student, der eine kluge Frage gestellt hat.
    »Das sagt mir meine Erfahrung. Und das sagen mir meine Studienergebnisse. Wie Sie wissen, ist Somnambulismus eines der am schlechtesten erforschten Phänomene der Medizin. In den letzten Jahren jedoch hat meine Klinik einige bahnbrechende Entdeckungen gemacht. Das fängt damit an, dass bereits der Begriff Schlafwandeln fehlerhaft ist. Zwar treten die nachtaktiven Handlungen meist in der Tiefschlafphase auf, aber genau genommen schläft der sogenannte Schlafwandler gar nicht. Er befindet sich in einer anderen, kaum erforschten Bewusstseinslage zwischen Schlaf und Wachsein. Ich nenne sie das dritte Stadium.«
    Leon zupfte sich nervös an der Haut über dem Adamsapfel. Was Volwarth ihm gerade schilderte, erinnerte ihn an die Schlaflähmungen, die ihn manchmal überkamen und aus denen er sich regelrecht wach kämpfen musste.
    »In Langzeitversuchen, in denen wir ganze Familien unter klinischer Beobachtung hielten, konnten wir herausfinden, dass sich die Gewalt von Nachtwandlern primär gegen nahe Angehörige richtet.«
    »Na bitte!« Leon klatschte in die Hände. »Jetzt sagen Sie doch selbst, dass …«
    »Aber …« Volwarth hob den Zeigefinger. »Aber es gibt immer Vorzeichen. Hat Natalie sich schon früher einmal beschwert, Sie wären im Schlaf grob zu ihr geworden?«
    »Nein.«
    »Haben Sie sie des Nachts je gewürgt oder geboxt?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Glauben Sie mir, Sie wüssten es. Natürlich können Sie sich selbst an Ihr nachtaktives Verhalten am nächsten Morgen nicht erinnern, aber Ihre Frau hätte Sie mit Sicherheit zur Rede gestellt. Nachtwandler reißen nicht einfach von einem Tag auf den anderen ihren Lebensgefährten die Fingernägel raus, schlagen ihnen die Zähne ein. Das beginnt schleichend.«
    »Aber ich habe es gesehen«, widersprach Leon.
    »Was genau haben Sie gesehen?«
    »Ihr blaues Auge«, antwortete Leon gereizt. »Ich habe Ihnen Natalies Verletzungen doch geschildert.«
    »Sie haben mir auch erzählt, dass Sie kurz zuvor aus einem grauenhaften Kakerlaken-Alptraum erwacht sind.«
    »Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Leon verunsichert.
    Der Psychiater beugte sich auf dem Sofa nach vorne. »Es war dunkel. Könnte es nicht einfach nur verwaschener Lidschatten gewesen sein, den Sie im Halbschlaf mit einem Veilchen verwechselt haben?«
    »Das glaube ich nicht, nein. Und das würde auch nicht Natalies abgerissenen Daumennagel erklären.«
    Oder den abgesplitterten Schneidezahn.
    »Außerdem hat sie gehumpelt.«
    »Ihre Frau trug einen schweren Koffer aus dem Haus. Auch ich habe vorhin gehumpelt, als ich meinen zum Taxi wuchten musste.«
    »Und wie erklären Sie sich das hier?«
    Leon schwenkte die verklumpten Schuhe wie ein Beweismittel im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher