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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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Füßen trug sie bequeme Stoffschuhe, das Gehen erschöpfte sie sehr. Ihre Körpergrößehatte sich halbiert. Sie war ungefähr achtzig Jahre alt, niemand wußte, wie alt genau. Doch hörte sie gut, war wach und besaß einen klaren Verstand. Wie alle betagten Menschen erinnerte sie sich an vergangene Erlebnisse deutlicher als an das, was sich am Tag zuvor oder vor ein paar Stunden ereignet hatte, und diese Erlebnisse waren es, die sie bewegten. Wie hatte sie wohl ausgesehen in ihrer Jugend? Hübsch? Hochgewachsen und anziehend? An ihrem jetzigen Aussehen war nichts abzulesen. Alle behaupteten, Sudabeh ähnele der Tante in ihren Jugendtagen, was Sudabeh natürlich beleidigte, doch sie zeigte es nie, da sie ihre Tante sehr liebte. Dieses harmlose Häufchen Haut und Knochen, das nur erschien, wenn seine Anwesenheit erforderlich war. Früher, als Sudabeh noch jünger war, waren sie, ihr Bruder und ihre Schwester jedesmal, wenn Papa und Mama Gäste hatten oder eingeladen waren, trotz Kindermädchen und Dienerin, trotz Kino, Fernsehen und Büchern im Haus ins Zimmer der Tante gegangen und hatten sich ans Bett neben ihren dürren Beinen hingesetzt, damit sie ihnen eine Geschichte erzählte, oder mit den Gegenständen in ihrem Zimmer herumgespielt. Wenn Mama das sah, schalt sie: ›Kinder, ihr dürft die Sachen eures Tantchens nicht anfassen, seid nicht so neugierig.‹
    Tantchen lachte und sagte stets: »Laß sie in Frieden, Nahid Djan, ich habe es ihnen erlaubt.«
    Es gab nur ein Kästchen im Wandschrank von Tantchens Zimmer, das von den Erkundungen und Durchsuchungen der Kinder verschont geblieben war. Nicht etwa, daß sie es übersehen oder nicht benutzt hätten, nicht draufgestiegen wären wie auf einen Schemel, um an die höheren Fächer zu gelangen. Der Grund war, daß das Kästchen ein Schloß trug und daß es ihnen nie in ihren kindlichen Sinn gekommen war, die Tante zu fragen, was sich in ihm verbarg. Außer diesem Kästchen gab es eine Laute, die an der Wand von Tantchens Zimmer hing. Seit Sudabeh sich erinnern konnte, hing sie dort. Eine abgenutzte, antike Laute. Von dieser Laute ging eine solche Würde aus, daß selbst die Kinder sie nicht antasteten. Bis auf das eine Mal, als Sudabehs jüngerer Bruder Peyman über die Stränge schlug. Damals war Sudabeh fünfzehn und Peyman acht Jahre alt.
    Peyman rannte plötzlich auf die Laute zu, streckte die Hand aus,um sie abzunehmen, und sagte: »Tantchen, ich möchte für Sie Laute spielen.« Seine Hand berührte den Lautenhals, und plötzlich löste sich das Instrument von der Wand.
    Zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben hörte Sudabeh ihre Tante schreien: »Um Himmels willen, jetzt ist sie zerbrochen!«
    Dieser Schrei schreckte Sudabeh auf, und sie fing die Laute gerade noch rechtzeitig auf. Tantchens Augen hatten sich vor Entsetzen geweitet. Sie hatte ihren Oberkörper vorgebeugt und die Hände nach der Laute ausgestreckt. Es schien, als hätte die Laute während des Sturzes ihre Richtung geändert, und sich entschieden, in Richtung von Tantchens Bett zu fliegen und neben ihr zu landen. Peyman war ebenfalls erschrocken. Er war ganz blaß geworden. Nein, er fürchtete sich nicht vor Tantchen, sondern vor dem Zerbrechen eines Gegenstands, der, wie mittlerweile alle begriffen hatten, anscheinend unersetzlich war. Als handelte es sich um Tantchens Lebensuhr. Sudabeh hatte die Laute sorgfältig an ihrem ursprünglichen Platz befestigt und sich anschließend Peyman zugewandt, um wahrzumachen, was sie ihm schon mehrmals angedroht hatte. Sie hatte ihm eine derartige Ohrfeige versetzt, daß es knallte. Seitdem war die Laute von den Kindern verschont geblieben.
    Tantchen kam näher und brachte den Duft von Weizenkörnern und Hanfsamen mit. Man konnte nicht an Tantchens Wandschrank gehen, ohne auf Säckchen mit gerösteten Weizenkörnern und Hanfsamen zu stoßen, die zum Anbieten bereitstanden. Nicht, daß es keine Schokolade, Kekse und Bonbons gegeben hätte. Es war, als hätte Tantchen einen Süßwarenladen mit Schokolade, Kaugummis und Bonbons, und stets von der besten Sorte. Sie pflegte zu sagen: »Nimm diese Schokolade hier, Peyman Djan. Aber daß du sie ja erst nach dem Abendbrot ißt, sonst schimpft deine Mutter«, oder »Sudabeh, magst du Kaugummi oder Bonbons?« Oder sie wandte sich an Sudabehs jüngere Schwester und fragte: »Sepideh Djan, magst du Kaugummi oder Schokolade?«
    »Ich will Weizenkörner und Hanfsamen, Tantchen.« Und zu dritt leerten sie in einer
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