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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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sein mögen, es sind doch nicht die eigenen Kinder.Selbst ein schlechtes eigenes Kind ist ein gutes Kind. Selbst wenn es einen ärgert, liebt man es.«
    »Und was ist mit uns, Tantchen? Sind wir nicht wie Ihre eigenen Kinder?«
    »Doch, mein Liebling, doch. Besonders du. Du, die du mein Ich bist. Täglich danke ich Gott hundert Mal, daß du in diesem Haus bist. Jedesmal, wenn du von draußen zurückkommst und aus dem Wagen deiner Mutter steigst, preise ich zehnmal deine Gestalt. Spreche eine Wanjakad und puste von weitem um dich herum, um die bösen Geister zu vertreiben. Bete zu Gott, du mögest glücklich werden. Daß ihr alle drei glücklich werdet. Gott gebe, daß ihr nicht zu leiden habt. Ich hätte mir gewünscht, niemals dieses Kästchen vor dir öffnen zu müssen. Hast du davon gewußt?«
    Sudabeh wußte von gar nichts.
    Tantchen beugte sich vor, zog einen alten Schlüssel heraus, den sie an einer Goldkette am Hals trug, und öffnete es. Sudabeh sagte erstaunt: »Oh, Tantchen, also da war der Schlüssel?«
    Tantchen lachte: »Ja, ihr Teufelchen. Von klein auf wart ihr drei hinter dem Schlüssel her, stimmt’s?«
    In dem Kästchen befand sich nichts außer ein bißchen Krimskrams, vergilbten Blättern, ein paar Bildern und einer Scheidungsurkunde. Das war also Tantchens Schatz. Weder Puppen enthielt er noch Schokolade, noch Gummiband für Spatzenschleudern, und auch keine Stoffreste und Pailletten zum Nähen von Puppenkleidern. Keine Spur von all den Dingen, die Sudabeh und ihren Geschwistern in Kindertagen wie Schätze vorgekommen wären. Noch nicht einmal Lavashak, Qaraqorut oder getrocknete Sauerkirschen gab es. Weswegen also hatte sie ein dermaßen wertloses Kästchen verschlossen gehalten?
    Tantchen trank ihren Tee, sank in den Sessel zurück und packte den Griff des Gehstocks. Sie streckte ihre Beine aus und legte den rechten Fußknöchel über den linken. Es war das erste Mal, daß sie nicht über Beinschmerzen klagte. Sie blickte Sudabeh in die Augen und fragte liebevoll: »Wirst du nicht müde, wenn ich sie dir von Anfang an erzähle?«
    Sudabeh erwiderte begeistert: »Nein, Tante. Nein, ich werde nicht müde.«

Erstes Kapitel

E s war Frühling, Sudabeh Djan, Frühling. Verflucht sei dieser Frühling, den ich immer noch liebe. Es war zu Beginn der Regierungszeit von Reza Shah. Ich weiß nur noch soviel, daß ein paar Jahre seit seiner Krönung vergangen waren. Wie viele Jahre? Vier Jahre? Fünf oder drei? Ich weiß es nicht. Frag mich nicht, wann die Qadjaren abdankten und wann Reza Shah kam. Es gab Gerüchte und Aufruhr. Es hieß, die Qadjaren würden gehen. Es ging das Gerücht vom Sardar Sepah. Es ging das Gerücht von der Krönung Reza Chans, aber ich weiß es nicht mehr. Als ob ich mich nicht auf dieser Welt befunden hätte, ich war in einer anderen. Nur an das, was ich mir wünschte, erinnere ich mich.
    Tantchen verstummte. Sie stützte ihr Kinn auf den Gehstock und starrte in den vereisten Garten.
    Als ob es gerade gestern gewesen wäre… Ach, Sudabeh Djan, wie schnell doch die Lebenszeit vergeht. Und bei Gott, wie kurz ist das Leben, das Gott uns geschenkt hat, und die meiste Zeit wird auch noch mit Kindheit und Alter vertan. Wie kurz die Zeit der Freuden ist! Wie recht hatten die Alten: vergänglich wie eine Blüte. Auch du wirst die Bedeutung dieser Worte nicht verstehen, ehe du nicht so alt geworden bist wie ich; was es heißt, das Leben sei wie Schnee unter der sengenden Sonne. Gott gebe, daß du ein langes Leben hast, mein Töchterchen….
    Tantchen verstummte und starrte in den Garten. Hatte sie es vergessen? Oder war sie eingenickt?
    »Tantchen!«
    Stille.
    »Tantchen!«
    Die Tante weinte.
    Ich weiß es nicht. Von den Qadjaren weiß ich überhaupt nichts. Von Reza Chan weiß ich überhaupt nichts. Ich bekam nichts mit von der Welt, Sudabeh Djan. Denn ich war verliebt. Laß kommen, was kommt, und vergehen, was vergehen mag. Mochte die Welt aus den Fugen gehen oder nicht, was bedeutete das schon? Nur er sollte bleiben. Oder etwa nicht?«
    Tantchen blickte Sudabeh mit tränenerfüllten Augen an und setzte ein bekümmertes, verliebtes Lächeln auf. Wie das Lächeln eines jungen Mädchens. Sudabehs Augen versanken ebenfalls in Tränen.
    Tantchen fragte erneut: »Du sagtest also, du liebst ihn sehr?«
    Sudabeh antwortete verzückt: »Ja, Tantchen.«
    »Gott erbarme sich deiner, mein Töchterchen, Gott erbarme sich deiner.«
    Ja, es war Frühling, und unser Haus war ein Meer von Blumen und
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