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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift
Autoren: Pierre Magnan
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unter den ungeduldigen Blicken des Richters, der schließlich wütend herausplatzte: »Was ist denn nun, zum Teufel? Lesen Sie mir das Ding endlich vor!«
    Mit leiser Stimme kam Laviolette dieser Aufforderung nach, als sei es ihm peinlich, so viel Leid öffentlich auszubreiten:
    Dienstag, den 22. Oktober 1861
    Unwerter Bruder, Bruder ohne Wert, da sitze ich nun schon so lange an diesem Kap, für mich ein Kap der schlechten, der äußerst schlechten Hoffnung. Ich lebe unter einem schwarzen Himmel, einem Himmel, der immer nur schwarz bleiben wird. Ich stehe am Ende der Mole und bin niemandem etwas nütze. Vor mir liegt die See; zehntausend Kilometer, bis zum Südpol reicht dieser üble, hässliche Ozean, dessen Wasser so schwarz ist, dass einem schlecht davon wird. Wo ich mich doch nur auf dem Festland wohl fühle … Sechs Monate schon. Seit sechs Monaten sitze ich hier und warte. Wenn ich mich wieder auf diesen Ozean begebe, dann sicher auf einem Schiff, das so wurmstichig sein wird wie die Truhe unserer Großmutter. Unserer? Pardon, Ihrer Großmutter. Wer weiß, wo ich landen werde? Wer weiß, ob ich überhaupt landen werde? Ich denke an Barles … Nur dort ging es mir gut. Ich hätte die Schafe hüten können, in der Sonne. Mit einem Stück Brot. Was hätte ich schon groß gekostet? Ich hoffe, ja ich wünsche mir, dass Sie eines Tages all das werden ertragen müssen, was ich ertrage.
    Als ich in Abriès lebte, bin ich einmal in die Kirche gegangen und habe dort folgende Inschrift auf den Deckenbalken gelesen: Machet Maße und Gewichte; denn mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Das trifft auf Sie zu, der Sie mir mein Teil ungerecht zugemessen haben. Möge die Dauer Ihres Lebens, desjenigen Ihrer Kinder und Ihrer gesamten Nachkommenschaft ebenso schlecht bemessen werden, wie Sie mir meine Tage zugemessen haben. Das ist die einzige Gnade, die ich Ihnen wünsche. Amen.
    Laviolette schwieg eine kurze Zeit und seufzte.
    »Und das Ganze trägt keine Unterschrift. Er wusste nur zu gut, dass noch nicht einmal sein Vorname und schon gar nicht sein Familienname den Empfängern des Schreibens etwas bedeutete.«
    »Alles schön und gut!«, meldete sich Chabrand zu Wort. »Aber ist das etwa alles? Was soll das? Was hat das mit diesem Schatz zu tun? Liefert das vielleicht eine Erklärung für all diese Verbrechen?«
    Ohne ein Wort zu sagen, brachte Laviolette das Schreiben wieder in seine ursprüngliche Form und legte es mit der Rückseite auf den Tisch.
    »Eine kleine Anstrengung kann ich Ihnen nicht ersparen. Halten Sie das bitte mal vor das Auge mit dem intakten Brillenglas und sehen Sie ganz genau hin.«
    Chabrand folgte der Aufforderung. Mit Mühe konnte er die völlig verblasste Schrift entziffern, mit der eine Adresse hingekritzelt worden war. Er las laut vor:

Monsieur Rosarius Melliflore

Hundsgifthof in Barles
    Département Basses-Alpes Frankreich.
    »Ja und?«, meinte er. »Sonst noch was?«
    »Weiter oben! Über der Adresse! Was sehen Sie da?«
    »Da sind fünf dreieckige Vignetten. Wahrscheinlich Briefmarken. Was ist daran so sonderbar? Schließlich gibt es die Post schon seit 1849.«
    Laviolette verdrehte die Augen nach oben und rief die Zimmerdecke zur Zeugin seines tiefen Mitleids angesichts von so viel Begriffsstutzigkeit an.
    » O sancta simplicitas! « , rief er aus. »Da hat man Ihnen nun so viel beigebracht und hätte Ihnen doch noch so viel mehr beibringen müssen!«
    Er packte den grauen Wisch, der so gar nichts hermachte, und hielt ihn dem Richter unter die Nase.
    »Was meinen Sie würde passieren, wenn sich die Nachricht verbreitete, dass sich hier in Barles ein Brief befindet, der mit fünf von diesen Briefmarken, wie Sie es nennen, frankiert ist? Sie scheinen nicht zu wissen, dass sich hunderttausend Leute auf uns stürzen würden, um uns den Brief aus den Händen zu reißen. Sie würden unglaubliche Summen dafür bieten, ja sogar versuchen, uns um die Ecke zu bringen. Von überall her würden sie angereist kommen: aus den Vereinigten Staaten, aus Japan, aus der Sowjetunion, aus den arabischen Emiraten und was weiß ich noch von woher!«
    Er zeigte auf den Brief, trommelte mit dem Zeigefinger darauf herum, um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen, ohne dabei allerdings die fünf Vignetten zu berühren.
    »Was Sie da vor sich haben, zählt zu den seltensten Briefmarken der Welt. Ich bin kein Experte, aber ich habe mich informiert. Also hören Sie mir bitte noch einmal
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