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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift
Autoren: Pierre Magnan
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da etwas mitgekriegt haben? Vor allem jetzt, wo der Fall juristisch gesehen abgeschlossen ist. Alle Welt wird genau wie Sie argumentieren: Monsieur Régulus war verrückt.«
    Er reichte Chabrand den Brief mit weit ausgestrecktem Arm über den Tisch.
    »Sie sollten endlich leben. Ich glaube, das würde Ihnen nicht schlecht stehen!«
    Der Richter nahm das rechteckige Blatt in die Hand, auf dem ein Ausgestoßener seine Verwünschungen gegenüber dem Vertreiber und seine Klagen über die verlorene Heimat festgehalten hatte. Er betrachtete es eine Zeit lang stumm und schüttelte dabei den Kopf. Er erwiderte den forschenden Blick Laviolettes mit einem spöttischen Lächeln, in das sich eine Spur von Rührung mischte. Dann legte er den Brief wieder auf den Tisch und murmelte: »Alles ganz einfach. Und danach könnte ich mich hier nie wieder blicken lassen!«
    Er stand auf, sichtlich verlegen angesichts dessen, was ihm noch zu sagen blieb. Er drehte sich um und nahm seine Hose, die jetzt trocken sein musste, und fügte hinzu: »Sie wissen ja … Digne ist nun einmal meine Welt. Der einzige Ort, an dem ich es aushalten kann.«
    Beim Anhören dieses Glaubensbekenntnisses musste Laviolette ein Fremdkörper ins Auge geraten sein. Er rieb mit den Fingern daran herum. Beinahe hätte er auch noch seine Hand auf die des Richters gelegt, als er ihm eingestand: »Das geht mir genauso.«
    Verlegen drehte er sich um und machte sich am Herd zu schaffen. Er rüttelte am Rost, nahm die Eisenringe an der Herdplatte heraus und legte ein Scheit nach.
    »Was machen Sie denn da?«, sagte Chabrand. »Wir müssen ein Telefon auftreiben, die Gendarmen benachrichtigen und den ganzen Zirkus in Gang setzen.«
    Laviolette nickte nur. Er stieg in seine Hose. Der Richter war schon dabei, seine Fliege zu befestigen, die einen ganz anderen Mann aus ihm machte.
    Von den Platanen im Schulhof drang ein Rauschen ins Zimmer. Sie blickten nach dem Fenster. Das Gewitter hatte sich weit nach Westen verzogen. Hinter dem Blayeul war schon eine lachsfarbene Morgendämmerung zu erkennen.
    In der Fensteröffnung – hoch über dem Tal, auf dem Vorgebirge – erschienen vor einem Himmel, der einen schönen Weihnachtstag versprach, die Ruinen des Hofs der Melliflores. Zwei senkrechte Mauerreste ragten hochmütig aus den Trümmern empor, zwei Finger, die diskret darauf hinzuweisen schienen, dass man die Geschichten besser nicht weitererzählen sollte, deren Zeugen sie geworden waren.
    Ganz dort unten im Süden ließ der abweisende Felsspalt nach und nach etwas von dem strahlenden Licht ins Labyrinth der clues einfallen. Nie würde es bis zum Grund der Schlucht vordringen.
    Alle Elemente, die im Verlauf dieser Geschichte hartnäckig zur Verschleierung der Wahrheit beigetragen hatten, die beharrliche Heimlichtuerei der Bewohner des Orts, die bedenkliche Vorhaben begünstigende Einsamkeit der Nächte, waren wie weggewischt. Voller Erleichterung hatten sie sich aufgelöst, und so entstand das Bild eines heiteren und betriebsamen Wintermorgens. Ganz Barles zeigte seine Freude darüber, dass ein Zipfel des Schleiers, der so viele Geheimnisse bedeckte, gelüftet worden war.
    »Der Wind frischt auf«, stellte der Richter fest.
    Laviolette dachte an seine Katzen. Voller Melancholie dachte er auch an das feiste Mädchen in Malefiance, das er vielleicht noch etwas fester hätte an sich drücken können, wenn die Nacht nicht so reich an Ereignissen und Überraschungen gewesen wäre. Er dachte auch – und das vertrug sich durchaus mit seinen übrigen Gedanken – an die Flasche Chambertin, die er am Abend zuvor umsonst entkorkt hatte und die seither offen neben seinem aufgeschlagenen Lieblingsbuch stand. Buch und Flasche mochten sich auf dem niedrigen Tischchen vor dem Sessel die Zeit mit komischen Geschichten über einsame Leute vertreiben.
    Das Bedauern über all diese verpassten Gelegenheiten legte sich Laviolette schwer auf die Brust. Er musste sich Luft verschaffen. Und das konnte er, indem er sein Lieblingszitat vollendete, das der Richter soeben begonnen hatte: »… versuchen wir zu leben«, sagte er.
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    * Vgl. ›Das Zimmer hinter dem Spiegel‹ von Pierre Magnan.
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