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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift
Autoren: Pierre Magnan
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konnte ich jedoch nicht entdecken. Die Cousinen hatten sie bereits in Sicherheit gebracht, oder sie versteckten sie an ständig neuen Orten. Dafür entdeckte ich die Kalendersammlung des Briefe austragenden Großvaters. Dort stieß ich auf das Bild, das den Kalender von 1912 zierte. Es war eine Enthüllung für mich, denn der Großvater hatte mit großen schwarzen Buchstaben an den Rand unter das Kalendarium geschrieben: › Genau das ist es. ‹«
    »Hier muss ich Sie unterbrechen«, rief der Richter aus.
    »Irgendetwas stimmt da nicht. Wenn Ihr Mörder den Erbinnen Briefe mit der Bitte geschickt hat, sie möchten ihm die Trommeln verkaufen, dann hätten sie doch den Braten riechen müssen. Sie wussten ja von der Existenz eines Schatzes, den der Großvater versteckt und den seither niemand entdeckt hatte. Da hätten sie doch die Trommeln selbst aufschneiden müssen, nur um sicherzugehen!«
    »Sie sind tot und können keine Antwort auf diese Frage geben. Wenn sie es nicht getan haben, so vermutlich deshalb, weil sie sich gegenseitig nichts Wichtiges anvertrauten und daher gar nicht wissen konnten, dass auch die anderen das gleiche Angebot erhalten hatten. Und damit blieb es für sie bei einer schlichten Anfrage, auf die man nicht zu reagieren brauchte.«
    »Und später? Nachdem sie die Drohbriefe erhalten hatten, die wir bei jeder von ihnen gefunden haben, hätten sie doch ahnen müssen, dass da irgendetwas dahinter steckte!«
    »Nun ja. Zunächst einmal verbietet ihnen ihr sprichwörtlicher Geiz, einen Gegenstand zu beschädigen, der Geld gekostet hat. Außerdem wissen sie, dass vier Trommeln unter den vier Erbinnen verteilt worden sind. Wenn eine davon einen Schatz enthält, sind die anderen drei notwendigerweise leer. Ich könnte mir vorstellen, dass sie aus reiner Eigenliebe lieber im Ungewissen bleiben wollten, um sich nicht schrecklich ärgern zu müssen. Also taten sie erst mal nichts weiter, als ihr Eigentum mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Vielleicht hätten sie schließlich doch einmal in den Trommeln nachgesehen, wenn ihnen Zeit dazu geblieben wäre. Wer kann schon wissen, was in der Seele einer Geizigen vor sich geht?«
    Er überlegte einige Augenblicke, um schließlich hinzuzufügen: »Andererseits … Woher wollen Sie überhaupt wissen, dass die Trommeln nicht geöffnet wurden? So eine Trommel lässt sich doch auseinander nehmen, wenn man genug Zeit dazu hat. Der Mörder hat sie sicher nur aus Ungeduld aufgeschnitten. Soll ich weiterlesen?«
    Der Richter wiegte den Kopf hin und her und schien nicht sehr überzeugt. Brummend gab er seine Zustimmung.
    »Wenn jedoch das Schicksal erst einmal beschlossen hat«, las Laviolette weiter, »jemanden vor sich selbst zu erniedrigen, dann braucht der sich erst gar nicht mehr über die Streiche zu wundern , die es ihm spielt. Das Schicksal ist allgegenwärtig, es verspottet ihm da mögen ihm, der fest an die sakrosankten Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung glaubt, seine Gaukeleien noch so unwahrscheinlich vorkommen – plötzlich zieht es ein Ereignis aus seinem Zauberhut der dritten Art, das, so glaubt er, unmöglich etwas mit ihm zu tun haben kann. Und wenn sich ein solches Ereignis 1861, vor über hundert Jahren und zwölftausend Kilometer entfernt von hier am Strand des Indischen Ozeans abgespielt hat, so ist es deswegen nicht weniger wirklich und nicht weniger tragisch. (Doktor Pardigon nannte den Ort Adamastor; er hatte wohl die berühmte Episode aus Cam õ es’ Lusiaden besser im Gedächtnis als seinen weit zurückliegenden Geographieunterricht.)
    Ein armer Mann betritt ein Bureau de tabac (oder einen ähnlichen Laden, wie man ihn zu allen Zeiten auf der ganzen Welt antreffen konnte) und verlangt Briefpapier, einen Federhalter und lila Tinte. Etwas Alltäglicheres lässt sich kaum vorstellen, sollte man meinen. Und doch ist es letztlich dieses völlig unbedeutende Ereignis gewesen, das einen Mörder aus mir gemacht hat … «
    Laviolette verstummte. Er las noch einige Augenblicke leise weiter, blätterte die Seiten um, überflog sie, um schließlich das Heft zuzuschlagen und es auf den Tisch zu legen.
    »Das wär’s«, sagte er. »Von hier an wird nicht mehr über Fakten berichtet, sondern über Seelenqualen; das will ich Ihnen ersparen. Es geht um die Auseinandersetzung eines Mannes mit seinem Gewissen. Um die Klagelieder, die das eine anstimmt, wenn der andere von seinen mörderischen Unternehmungen zurückkehrt. Um Zustände der Mutlosigkeit,
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