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Der Metzger sieht rot

Der Metzger sieht rot

Titel: Der Metzger sieht rot
Autoren: Thomas Raab
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abgehobener Ignoranten.
    Nach diesem Besuch war die Frage „was und wohin“ zwar noch genauso offen wie davor, doch das spielte keine Rolle mehr. Eines war ihr unverrückbar klar geworden: Sie musste hier weg.
    Über mehr nachzudenken, dazu blieb keine Zeit, und wahrscheinlich war gerade deshalb, trotz der gewaltigen Schwere und diesem erbarmungslosen Schmerz, alles plötzlich so einfach.
    An dem Tag, an dem nach diesem kurzen Läuten die Tür geöffnet worden war, und in die wenigen Worte der Polizei hinein der Wetterbericht aus dem Fernsehapparat schweren Hagel ankündigte, brach die Mutter im Vorzimmer zusammen. Die Polizei rief die Rettung, aber die Rettung war nicht mehr notwendig, genauso wenig wie kurz zuvor für ihren Bruder. Den habe man mit durchgeschnittener Kehle auf dem Kinderspielplatz gefunden, berichtete die Polizei.
    Ihre Mutter und ihr Bruder wurden eine Woche später begraben, genauso wie ihr Glaube an das Gute und ihre Gnade. Von da an war sie allein. Unter Vater verstand sie eine männliche Person, die ihr als Kind solange eine heimlich nächtliche Zuwendung zuteil werden ließ, bis sie zum ersten Mal im Alter von zwölf unter der Dusche nicht wusste, wo plötzlich all das Blut herkam. Als dann eines Tages allerdings im Wohnzimmer eindeutig für alle offensichtlich war, wo das Blut im Gesicht der Mutter herkam, nahm ihr großjähriger Bruder das Holzkreuz über dem Esstisch in seine kräftige Hand und ließ dem Vater am helllichten Tag eine göttliche Zuwendung zuteil werden, die ihn in die Knie und daraufhin aus der Wohnung zwang. Ihr Bruder hatte von da an die Familie ernährt, wie, danach wurde nie gefragt. Ihre Mutter blieb die meiste Zeit zuhause, vorwiegend schweigend mit sich und der Flasche beschäftigt, um während ihrer wenigen hellen Augenblicke der Tochter heulend zu erklären, dass alles gut würde und ab morgen anders. Als die Mutter dann eines Tages vom eigenen Sohn mit den Worten „Ab jetzt ist morgen!“ im Zimmer eingesperrt wurde, ohne Flasche, dieser die Tür zwei Wochen lang trotz der mütterlichen Schreie, Wutausbrüche, Drohungen und Heulkrämpfe ausschließlich zum Zweck der Zureichung von Wasser und Nährstoffen kurzfristig öffnete, nicht jedoch zwecks hygienischer Maßnahmen aller Art, wurde nach diesen Wochen wirklich alles anders. Die Mutter ging zumindest ab und zu putzen, der Bruder kam zumindest ab und zu nachhause, und sie ging zumindest ab und zu in die Schule, um beiläufig auf dem Nachhauseweg mitzuerleben, wie ihr Bruder schlagkräftig dafür sorgte, dass die Siedlung sauber blieb, wie er es nannte. Für ihn war von Anfang an klar, dass für gleich zwei hoffnungslose Kulturen in dieser Siedlung, in diesem Viertel wirklich zu wenig Platz war. Keine Frage, wer hier das Sagen hatte, hier brauchte es keine Polizei, ihr Bruder nahm das Gesetz selbst in die Hand, irgendwann auch untertags auf dem Kinderspielplatz. Ihr Leben war gut.
    Bis zu jenem Tag, an dem ihre Mutter der Polizei die Tür öffnete.

    Die Jahre zählt sie nicht mehr, seit ihre Familie begraben wurde, und als sie vom Stadion nachhause fuhr, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass Kwabena Owuso neben diesem Geschenk des schnellen Todes nicht auch noch ein unverdientes Heldentum beschert würde.

8
    Als der Metzger aufwacht, sind die Prozessionsraupen in seinem Rachen nicht weg, ganz im Gegenteil, sie haben ihren kratzbürstigen Rundgang erweitert, mit verheerenden Folgen. So verstopft kann eine Nase samt dazugehörigen Stirnhöhlen nur sein, wenn auf diesen Atemwegen der Verkehr in beide Fahrtrichtungen zum Stillstand gekommen ist. Und das ist das Letzte, was der Willibald braucht. In der Werkstatt wartet die Arbeit, und Krankheit kann sich ein Selbstständiger nur leisten, wenn es darum geht, Versicherungszahlungen herauszuschlagen oder Einladungen abzusagen.
    „Wegen Krankheit bleiben nur die Schwächlinge zuhause!“, hat sein Vater immer gemeint, nur wehe er selbst war mit einer leichten Verkühlung gesegnet, da war von In-die-Arbeit-Gehen keine Rede mehr. Der Vater war immer gleich schwer krank, ob Bienenstich oder Furunkel, alle mussten strammstehen mit mitleidigen Gesichtern und aufmunternden Kommentaren, mussten mit widerspruchsloser Hilfsdienstbereitschaft um ihn herumschwirren wie die Drohnen, während der Herr Bienenkönigin ein Stöhnen und Raunzen an den Tag legte, als würde er täglich 2000 Eier aus sich herauspressen. Der Mutter, die ja tatsächlich schon etwas aus sich
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