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Der Metzger sieht rot

Der Metzger sieht rot

Titel: Der Metzger sieht rot
Autoren: Thomas Raab
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die pfiffigste Schlagzeile zwecks gegenseitiger Unterscheidung, und wenn sie dann ausgebreitet nebeneinander liegen, pfeifen sie doch alle dasselbe Lied. Dazu tönt die gleiche Melodie als finale Reprise aus den Abendnachrichten, bis es die Leute mitpfeifen, dieses Liedchen, und schließlich der Meinungsaustausch an den Küchentischerln, im Büro, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, im Ehebett zu einem lauten einstimmigen öffentlichen Gesumme anschwillt, der sogenannten öffentlichen Meinung. Der Willibald nennt das die mediale Sonatenhauptsatzform. Vorstellung der Themen, Durchführung und Reprise, fertig ist die Gehirnwäsche, durchzogen von ein paar „Uchs“ und „Ahs“ und „Schrecklich“ und „Hab ich’s nicht immer schon gesagt!“
    Wochenlange Konzertreihen über ein und dasselbe Thema, da braucht der Willibald weder Zeitung noch Fernsehen, er wird sie zu Ohren bekommen, diese Musik. So werden die eigentlichen großen Lieder lautstark übertönt, bis sich die Menschen nur noch zu sagen haben, was in der Zeitung steht, aus dem Radio ertönt oder über den Bildschirm flimmert. Willibalds Alltag und Erlebniswelt haben mit denen aus der Zeitung nichts gemein, außer der Wetterbericht stimmt ausnahmsweise und der Regionalteil berichtet über die Fahrpreiserhöhung der öffentlichen Verkehrsmittel.
    An diesem Abend ist es anders, der Metzger wird sie zur Gänze lesen, die paar Seiten Gedrucktes.

    Unübersehbar mit einer fetten roten Überschrift versehen: Das Vereinsblatt der Kicker Saurias Regis, eine großformatige Zeitung, offensichtlich ein Wegwerfposten, zumindest in den Augen der Fans, denn was da an Papier zwischen den Schalensitzen gelegen hat, könnte der Heerschar der im nahen Umkreis des Stadions angesiedelten Obdachlosen ziemlich lange als wärmende Unterlage dienen. Der Metzger beginnt in seinem ursprünglich als orthopädische Einlage gedachten Exemplar zu schmökern, nicht ohne daran erinnert zu werden, dass er das leichte Frösteln aus dem Stadion offenbar bis nachhause mitgeschleppt hat.
    Über dem Vereinsnamen strotzt das Logo des namensgebenden Konzerns, Regis, ein auf die Spitze gestelltes gleichseitiges Deltoid mit einem roten Kreis in der Mitte, der Rest der Figur mit einem dunkleren Rot ausgefüllt. Schaut irgendwie aus wie ein Straßenschild, denkt sich der Metzger und liegt damit gar nicht so falsch. Regis ist ein riesiger Baukonzern, schwergewichtig im Straßenbau tätig, wie zumindest dem Werbeslogan zu entnehmen ist: „Regis, auf unseren Straßen kommen Sie in Fahrt!“
    Darunter Begrüßungsworte des Vereinspräsidenten und offensichtlichen Regis-Konzernchefs Johann König, gemäß abgelichtetem Porträt ebenfalls schwergewichtig.
    Da stehen Spielberichte, taktische Finessen, Lieblingsgerichte der Spieler samt Rezept, die aktuelle Tabelle, Termine für die Treffen der verschiedenen Fanklubs, Spottschriften gegen andere Vereine, der Spielplan und Reiseberichte von Anhängern, die zu diversen Auswärtsspielen pilgern wie Feinschmecker nach dem Besuch eines Gourmetrestaurants heimlich zum Würstelstand, und vieles mehr; wie es zum Beispiel den zurzeit verletzten Spielern geht. Genau geschildert wird da in der aktuellen Ausgabe, was ein Leistenbruch für unangenehme Nebenerscheinungen mit sich bringt und warum der äußerst beliebte Stefan Kreuzberger noch einige Zeit nicht im Tor stehen wird. Darunter ein Spielerporträt von Kwabena Owuso.
    Was für eine Ironie des Schicksals, was für ein trauriger Zufall, diese eiskalte Symbiose eines plötzlichen Todes mit dem gleichzeitigen Erscheinen einer ausführlichen Biographie, die nun als Nachruf durchgehen könnte.
    Und während der Metzger erstaunt mit dem linken Auge all die ihm ohnedies unbekannten Vereinsnamen studiert, die Kwabena Owuso im Lauf seines kurzen Lebens beglückt hat, schielt er mit dem rechten Auge auf die andere Seite und stellt verwundert fest, welche Sorgfalt und Fürsorge in diesem Blatt stecken.
    Denn wie auch dem Willibald unschwer ohne Medien zu Ohren gekommen ist, quält ein Tierchen namens Prozessionsraupe seit geraumer Zeit die Bewohner der Stadt. Und hier im Vereinsblatt der Kicker Saurias Regis wird nun die exponierte Lage des Stadions inmitten eines Eichen- und Buchenhains als Anlass genommen, ausführlich zu erläutern, dass nicht der ungepflegte Sitznachbar oder das miserable Spiel Verursacher eines heftigen Juckreizes sind, sondern die durch die Luft angewehten giftigen Härchen dieser Spezies, die
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