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Der Metzger bricht das Eis

Der Metzger bricht das Eis

Titel: Der Metzger bricht das Eis
Autoren: Thomas Raab
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Schule, also Schulwartin, in puncto Zeiteinteilung nicht über dieselbe Flexibilität verfügt wie ihr selbstständiger Restaurator und Lebensmensch Willibald Adrian Metzger. Kein Wunder, wenn sich da ihr Gesamtzustand trotz der eben erst ausgeklungenen Feiertage schwer in Richtung Urlaub entwickelt hat.
    Genau den soll sie bald bekommen.
    Es sind immer dieselben Gesichter, denen der Metzger im Park und auf dem Spielplatz begegnet, mehrheitlich vom selben Geschlecht, denn alle anwesenden Hunde und Kinder werden bis auf eine einzige Ausnahme von Frauen betreut. Diese einzige Ausnahme ist hier sozusagen der Hahn im Korb. Ausgestattet mit einem derartigen Wissen würde es Danjela Djurkovic natürlich noch erheblich schlechter gehen.
    Von Herumturteln kann allerdings nicht die Rede sein, nicht einmal von Rede. Der Metzger spaziert nur, schaut nur und grüßt nur freundlich. Mehr ist auch gar nicht notwendig, denn allein die Art und Weise, wie sein Spazierengehen wahrgenommen und sein Gruß erwidert wird, lässt ihn erkennen: Ich bin hier gern gesehen. Und richtig wohl fühlt er sich dabei nicht, der Willibald. Ob einem anwesenden Mann ein derart wohlwollender Gruß zuteilwird, hängt nämlich, wie so oft im Leben, auch hier von seinem Wagen ab.
    So kommt es also, dass sich in diesem Park regelmäßig die Wege zweier Herren kreuzen: einer ausgestattet mit Kinderwagen, folglich gern gesehen, der andere mit Einkaufswagen, folglich nicht gern gesehen, schon gar nicht in der Nähe des Kinderspielplatzes. Einer besucht den Park, der andere bewohnt ihn.
    Als wüsste er über diese Umstände Bescheid, spaziert der andere auch heute wieder am Metzger vorbei, lässt das geschlechtersolidarisch gemeinte »Guten Tag!« unbeantwortet, brummt stattdessen vor sich hin, blickt starr über die Vorderkante des scheppernden, mit unzähligen Plastiksäcken, Decken, Kartons und anderem Krimskrams gefüllten Gefährts, an dessen Front ein altes Stoppschild baumelt, zieht sich die Kapuze seines zerschlissenen Mantels noch eine Spur tiefer ins Gesicht, kratzt sich seinen rothaarigen Vollbart und setzt unbeirrt einen der beiden ausgetretenen roten Moonboots vor den anderen. Dann folgt ein ums andere Mal dasselbe Ritual: Der kleine Pavillon inmitten der Wiese wird angesteuert, ein Teil der Plastiksäcke ausgeräumt, akribisch wird auf der dort einzigen vorhandenen Bank zuerst eine Plastikplane, dann ein großer Karton, dann ein Schlafsack ausgebreitet und schließlich in Decken gewickelt darauf Platz genommen. Eine Zeit lang blickt der Mann murmelnd ins Leere, schließlich kramt er eine Thermoskanne, einen Block und einen Bleistift heraus und beginnt zu schreiben. Seite für Seite, ohne Unterbrechung, jedenfalls solange der Metzger hier seine Runden dreht, vielleicht aber auch, bis sie schläft, die ganze Stadt.
    Lilli schmatzt leise vor sich hin, wie auf Schienen rollt der Wagen über den Weg, der Schnee knirscht unter den Winterstiefeln, dann taucht der Spielplatz auf. Ein unauffälliger Kontrollblick, wer ist heute alles da, wer sitzt bei wem, wer unterhält sich mit wem, wer füttert wem was, wie ist die Stimmung, ein selbstbewusstes Zurechtrücken der Decke im Inneren des Kinderwagens, ein freundliches Heben der Hand, ein leichtes Heben der Brust, ein kurzer Anflug des Stolzes. Schön kann es sein, das Leben.
    Drei bis vier gemütliche Runden legt er hier regelmäßig zurück, der Metzger, was sich tragischerweise keinen Millimeter auf seine eigenen Rundungen auswirkt.
    Runde eins bleibt heute ohne nennenswerte Besonderheiten. Lediglich die frisch über den verschneiten Weg gestreuten Kieselsteine fallen ihm auf.
    Im Laufe von Runde zwei registriert er die bereits bezogene Bank im Pavillon und ortet leichte Unruhe auf dem Spielplatz. Ein dritter, groß gewachsener, kräftiger Mann mit verspiegelten Gläsern, Schirmkappe, hoch geschlossener Skijacke und übergestreifter Kapuze ist aufgetaucht, zückt eine Kamera mit auffällig großem Teleobjektiv und beginnt zu fotografieren: Vögel und deren Futter, Hunde und deren Besitzer, Mütter und deren Kinder, den Obdachlosen und seinen Einkaufswagen. Der Mann wirkt, als stünde er nicht mit Kamera vor dem Sicherheitszaun eines Kinderspielplatzes, sondern mit Pistole vor dem Sicherheitsglas eines Auszahlungsschalters. Das kann er eben, der Winter, Landschaften und Menschen bis zur Unkenntlichkeit verwandeln.
    Ein wenig beobachtet der Besucher die Kinder, dann schickt er einen schrillen Pfiff durch
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