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Der Metzger bricht das Eis

Der Metzger bricht das Eis

Titel: Der Metzger bricht das Eis
Autoren: Thomas Raab
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einzupacken!«
    »Willst du jetzt auf meine Figur anspielen? Lieber etwas Hüftspeck und Freude am Essen als spindeldürr und hoffen wie die Geier, dass das eigene Kind ein paar faulige Apferl übrig lässt!«
    »Anna, jetzt setzt’s aber was, spuck das sofort aus! Hanni, schau, jetzt hat’s die Nuss im Mund, Herrgottszeiten! Anna Anna, nicht schlucken! Ahanna! Anna?«
    Der Metzger ist überzeugt, dieses Schauspiel würde wahrscheinlich noch ein Weilchen so weitergehen, im schlimmsten Fall mit Todesfolge, wenn dem nicht ein anderes umwerfendes Ereignis dazwischenkäme.
    Anna öffnet den Mund, beginnt zu röcheln, greift sich an die Gurgel, verdreht die Augen und kippt um. Ein paar Krähen sind zu hören, das Brüllen der auf ihr Kind zustürmenden Mutter, die verzweifelten Hilferufe, während sie ihre regungslose Tochter durchrüttelt, und die Stimme eines Zaungastes: »Man muss die Rettung rufen!«
    Die Rettung ist sofort da. Vom Pavillon kommt sie über die verschneite Wiese gestürmt, muss dabei kurz dem Höllentempo und den ausgelatschten roten Moonboots Tribut zollen, fällt in den Schnee, rappelt sich hoch, stolpert weiter, springt über den Holzzaun auf den Kinderspielplatz, beugt sich fortwährend murmelnd über das Mädchen, registriert den Atemstillstand, zieht es hoch, umklammert es von hinten und drückt es fest zu sich. Wie ein Laubfrosch hüpft die Wasabinuss im hohen Bogen heraus aus dem Kindermund und hinein in den Schnee. Ein paar Ladungen Sauerstoff vom bärtigen zum Kindermund reichen, dann geht es wieder selbstständig auf und ab mit Annas Brustkorb. Nur die Augen bleiben geschlossen. Und wieder springt sie auf, die Rettung, eilt zum Tisch, nimmt die beiden Schaumstoffsitzunterlagen, legt diese neben das Mädchen in den Schnee, dreht den Körper in die stabile Seitenlage hinauf auf die Liegestätte, all das, ohne für einen Moment mit dem Murmeln aufzuhören, und all das beobachtet von Annas Mutter Maria, Hannelore Berger samt ihrem Jakob, Willibald Adrian Metzger samt seiner schlafenden Lilli, den am Spielplatzzaun aufgereihten Zuschauern und ganz am Ende auch unter den geöffneten Augen Annas. Aus dem Zuschauerraum ist ein Raunen zu hören, Applaus setzt ein, ein euphorisches »Bravo« verirrt sich aus Hannelore Bergers Mund.
    Langsam weicht der Obdachlose von Anna zurück. Mit großen Augen starrt sie ihn an. So auch Annas Mutter, als wäre sie Zeugin einer Erscheinung, eines Wunders, und gleichzeitig steht ihr etwas unfassbar Sanftes, fast Liebevolles ins Gesicht geschrieben. Kurz trifft sich ihr Blick mit dem des Obdachlosen. Aus dem Niemand ist ein Jemand geworden.
    Ein Jemand, der dem ganzen Gehabe nach zu urteilen nur noch eines will: zurück in seine Einsamkeit. Mit großen Schritten flüchtet er den Hang hinauf Richtung Pavillon. Wenig später übernimmt die eingetroffene Berufsrettung.
    Schaurig, fast eisig sieht es dann aus, das durch die weiße Stadt davonfahrende Blaulicht.
    Auch die Reihen der Zuschauer lichten sich, manche stecken ihre Köpfe zusammen, tuscheln sich etwas zu, manche beginnen zu telefonieren, und auch Lillis Kinderwagen setzt sich wieder langsam in Bewegung. Irgendwie besorgniserregend und irritierend klingen sie dem Metzger nach, die wenigen verständlichen Wortfetzen des mittlerweile verklungenen fortwährenden Gemurmels aus dem Munde von Annas Lebensretter: »Jetzt geht das Sterben wieder los, es geht wieder los!«

2
    Nach so einem Ereignis ändert sich schlagartig die Wahrnehmung. Nicht, dass der Metzger in Zukunft auf seine wöchentliche Spazierfahrt verzichten möchte, mit einem aber ist es für die nächste Zeit erst einmal vorbei: mit dem unbekümmerten Blick hinein zu seinem Fahrgast. Ab jetzt wird er zuallererst wissen wollen: Hat sie noch rote Backen, sind die Händchen auch schön warm, hebt und senkt sich der Bauch. Es will ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf, dieses Bild des erstickenden Mädchens im Schnee und des wie aus dem Nichts auftauchenden Retters. Nichts im wahrsten Sinn des Wortes, denn ein Mensch ohne Dach über dem Kopf, ohne Hab und Gut besitzt nicht nur nichts, oft nicht einmal eine Perspektive, sondern ist, was die Sichtweise der anderen betrifft, auch noch ein Nichts. Zumindest diesbezüglich hat das Leben vorhin für einen flüchtigen Moment den Deckel dieser selbst gemachten fensterlosen Schachtel namens Norm hochgehoben, allen Insassen wie dem Kasperl in der Kiste einen Blick hinaus gewährt und sie erkennen lassen, dass so ein
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