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Der Metzger bricht das Eis

Der Metzger bricht das Eis

Titel: Der Metzger bricht das Eis
Autoren: Thomas Raab
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jünger, auf mehr als vierzig Jahre schätzt er seinen Sitznachbarn aber trotzdem nicht. Regungslos blickt dieser auf seinen Block und füllt Zeile für Zeile. Schlecht in Mathematik war der Metzger ja nie, zumindest im Vergleich zu seinen Mitschülern, von all den hier notierten Zahlen und Zeichen versteht er allerdings nichts. Nicht einmal ansatzweise.
    Abermals beginnt er das Gespräch, diesmal eingeleitet von einer auf die Bank gelegten Visitenkarte.
    »Das bin ich, Metzger mein Name. Mit wem hab ich denn das Vergnügen?«
    Unbeirrt wird weiter aufs Papier gekritzelt.
    Daran ändert sich auch nichts, obwohl der Metzger wiederholt höflich um Auskunft bittet und den Vorschlag offenbart, beim Würstelstand ums Eck ein Abendessen und ein Bier ausgeben zu wollen. Einzige Antwort: »Alkohol, nein danke, Atomkraft, nein danke, Menschen, nein danke.«
    »Einen guten Überblick hat man von hier …!«, nutzt der Metzger die neuerliche Gesprächigkeit seines Sitznachbarn aus.
    »Nicht vorgesehen, ein guter Überblick, nicht vorgesehen, nicht gesund. Bevor man weise wird, wird man Vollwaise.«
    Nun unterbricht auch der Metzger: »Sie haben gerade einem Kind das Leben gerettet. Es ist so unglaublich …«
    »So unglaublich ist alles, wirklich alles, unglaublich. Das Wasser, die Ölpest, der Backfisch, der Schnee, der Klimawandel, die Schneeglöckchen, der Hefeteig, das Töten, die Hände, das wohltemperierte Klavier, alles. Unglaublich ist alles. Unglaublich, wie ein dummes Menschhirn, ein dummes, kleines Menschhirn behaupten können will, zu wissen, woran man glauben soll, wenn doch alles so unglaublich ist, viel zu unglaublich. Nur Klauben ist sinnvoll, Obst und Nüsse unter Bäumen, Menschen von der Straße, nur Klauben ist sinnvoll. Die Menschen glauben einander zu viel und klauben einander zu wenig auf. Überflüssig und anmaßend, das Glauben, überflüssig. Hat er ein eigenes Bett, so wie dieses, so warm wie dieses, so frei wie dieses, hat er? Oder eines wie Anna? Hat er? Annas Bett ist nicht gemacht, noch nicht gemacht. Sie wird sterben, aber nicht jetzt, vielleicht in siebzig Jahren, aber nicht jetzt, nicht vor mir, bitte nicht vor mir.« Dann verstummt er. Plötzlich sind die von seinem angenagten Bleistift am Papier hinterlassenen Zeichen deutlich dunkler und dicker.
    »Was meinten Sie vorhin mit: ›Jetzt geht es wieder los das Sterben, es geht wieder los!‹?«, hakt der Metzger nach. Doch vergeblich. Schlagartig ist Schluss mit den Notizen, der Obdachlose blickt starr ins Nichts. Endlos scheint dem Metzger die Stille. Schließlich wendet sich langsam der Kopf seines Nachbarn, aus dem Mund unter dem dichten rothaarigen Vollbart kommen flüsternd unverständliche Worte hervor, unheimlich klingen sie, dann heben sich die dichten rötlichen Augenbrauen, und tiefe, fast schwarze Pupillen heften sich an den erstaunten Blick des Metzgers. Kein Wort bringt er heraus, der Willibald, sieht hypnotisiert in diese tiefgründigen, traurigen und zugleich gütigen Augen, sieht keine Frage darin, nur eine sonderbare Abgeklärtheit, und sieht den Blick schließlich wieder unter den Augenbrauen verschwinden. Behäbig breitet sich der Mann auf seinem Karton aus, schlüpft in seinen Schlafsack und umhüllt sich mit einer Decke. Seine Schuhsohlen berühren die Oberschenkel des Restaurators, und nur schwer kann er sich lösen, der Metzger, durchströmt von einer seltsamen Verbundenheit.
    »Guten Tag«, meint er zum Abschied, und es erscheint ihm wie eine Verhöhnung. Was soll an einem Tag ohne Dach über dem Kopf schon gut sein.

3
    Ping – so klingt er heutzutage, der betörende Gesang der Sirenen: vorbeisegeln unmöglich.
    Kussbereit sind seine Lippen geformt, allerdings nicht um der Liebkosung willen, sondern rein zum Zweck der Tonabgabe. Jeder hat eben so seine Macken, der eine zwinkert hoch frequentiert, der andere saugt sich ständig lautstark in Westernheldenmanier die Speisereste aus den Zahnzwischenräumen, was ihm noch eine Spur widerlicher erscheint als permanentes Geräusper, ja, und er pfeift, von klein auf, nicht laut und schrill, sondern dezent und mit viel Luft. »Fly me to de moon«, zwitschert er beschwingt, vor allem aus Freude über die Reibungslosigkeit des gegenwärtigen Informations- und Datenaustausches. Neugierig wendet er sich seinem Laptop zu.
    »Ping« lautet er also, der unwiderstehliche Lockruf seines Posteingangs. Ein paar Klicks, und die zu ihm weitergeleiteten Fotos füllen den Bildschirm. Vögel,
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