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Der Menschenspieler

Der Menschenspieler

Titel: Der Menschenspieler
Autoren: Will Lavender
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weit gespreizten Beinen da, der andere war steifer, aber ansonsten waren sie ein Spiegelbild des anderen. Der Professor selbst befand sich nicht hinter einer Glasscheibe, die Kamera, die auf ihn gerichtet war, war nicht geschützt. Er saß einfach an einem kleinen Tisch, seine ungefesselten Hände vor sich, seine Atmung langsam und natürlich. Sein Gesicht deutete vage ein Lächeln an.
    »Hallo«, sagte er sanft. »Mein Name ist Richard Aldiss, und ich bin Ihr Professor für den Kurs Lösung eines literarischen Rätsels . Sagen Sie etwas, damit ich Sie hören kann.«
    »Hallo, Professor«, sagte jemand.
    »Wir sind hier«, sagte ein anderer.
    Aldiss lehnte sich zu einem Mikrofon, das sich knapp außerhalb des Kameraausschnitts befinden musste. Er nickte und sagte: »Sehr gut. Ich kann Sie hören, und Sie hören mich. Ich kann Sie sehen, und Sie sehen mich. Lassen Sie uns anfangen.«

Alex
    Gegenwart
    2
    Dr. Alex Shipley stieg aus ihrem Mietwagen und ging zur Tür des stillen Hauses. Sie trug hohe Absätze, verdammt, vielleicht weil sie gedacht hatte, die Leute am Jasper College wären beeindruckt, wenn sie an einem Tatort auftauchte und nicht wie die Akademikerin gekleidet war, die sie ja war. Jetzt schämte sie sich für ihre Wahl. Schämte sich, weil sie dem Professor sicher auffallen würde und es ihm einen Vorteil in dem Psychospiel verschaffte, das sie bald spielen würden.
    Über ihr stürzte ein Schwarm Zaunkönige aus dem Baum, und sie zuckte zusammen. In dem Augenblick wurde Alex bewusst, wie groß ihre Angst war, wieder hier zu sein, wieder in seiner Nähe zu sein. Sie zwang sich dazu, sich zu konzentrieren. Der Professor war einer der intelligentesten Männer der Welt, aber er würde auch jede Schwäche sofort ausnutzen. Er hätte seinen Spaß damit, wenn sie es zuließ.
    Das durfte sie nicht.
    »Sie lügen. Alle Vögel sind Todesvögel.«
    Alex schaute auf. Er lehnte an der offenen Fliegengittertür und starrte sie mit toten Augen an. Sein Mund war zu einem grausamen Lächeln erstarrt. Der Schlaganfall hatte seine Gesichtszüge ruiniert und aus seinem Gesicht eine glatte Maske gemacht. Eine Seite war vollkommen gelähmt, die teigige Haut voller blauer Adern, die Lippe zu einem gequälten Grinsen nach oben verzogen. Die andere Seite, die lebendige Seite, hatte gelernt, das Gleiche zu tun – er hatte es vor dem Badezimmerspiegel geübt. Jetzt lächelte er immer, immer , auch wenn es nichts zu lächeln gab. Selbst wenn er Schmerzen oder Trauer oder Wut empfand.
    »Alexandra«, sagte er. Nicht Professor , nicht Dr. Shipley . (Auch ihr fielen diese Dinge auf.) Er bat sie nicht herein. Ganz nach seiner Art ließ er sie draußen auf der kalten Veranda stehen und ein bisschen leiden. Immer eine Herausforderung, immer ein Test. Alex würde ihm nicht das Vergnügen bereiten zu sehen, wie sie ihre Arme wärmend um sich schlang.
    »Guten Morgen, Professor«, sagte sie.
    »Ich habe gehört, was unserem gemeinsamen Freund zugestoßen ist. Wie … tragisch.« Das Lächeln erreichte seine Augen. »Ich wusste, dass man dich schließlich zu mir schicken würde.«
    »Niemand hat mich geschickt«, sagte sie.
    Die Lüge amüsierte ihn. »Nicht?«
    »Ich bin aus eigenem Antrieb hergekommen.«
    »Also um mich zu sehen. Wie alte Freunde. Oder vielleicht wie alte Geliebte.«
    Etwas kratzte in ihrer Kehle. Sie starrte das zerstörte Gesicht an, der Wind zerrte an ihrem nackten Hals. Verdammter Kerl.
    »Würdest du gern reinkommen, Alexandra?«
    »Ja, bitte.«
    In dem kleinen Haus waren überall Bücher. Stapel, Berge von ihnen in der Dunkelheit. Kein künstliches Licht in den winzigen, nicht ganz rechteckigen Zimmern, nur das natürliche spülwassertrübe Licht der Morgensonne. Durch ein Fenster sah sie die dunkle Form eines halb zugefrorenen Sees hinter dem Haus.
    Er führte sie in ein Hinterzimmer und setzte sich in einen zerschlissenen Sessel, direkt dem Fenster gegenüber. Hier waren noch mehr Bücher, Studien über tote Schriftsteller, eine Underwood-Schreibmaschine auf einem kleinen Schreibtisch, begraben unter einer Lawine von beschriebenem Papier. Darüber ein Poster mit einem Männergesicht, über dessen Augen, Nase und Mund ein einziges Wort geschrieben stand. Das Wort war Wer? , ein Bleistifthauch, der im schwachen Licht kaum zu sehen war. Es war das Gesicht des geheimnisvollen Schriftstellers Paul Fallows. Darunter stand knallrot der Titel des Posters:
    WER IST FALLOWS ?
    Er bot ihr keinen Platz an. Sie stand mitten
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