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Der Menschenspieler

Der Menschenspieler

Titel: Der Menschenspieler
Autoren: Will Lavender
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des Pflegers von Nahem; sie erkannte, was ihr so seltsam vertraut vorgekommen war. Das, was sie vorher nicht hatte benennen können. Es war das Auge, Owens eines blaues Auge, das sichtbar war, während das andere im Schatten verborgen blieb. Unter dem Auge befanden sich fleckige Bartstoppeln, darunter blasse Haut, die sich in der Kälte rötete. Sie erinnerte sich an Aldiss während eines seiner Anfälle, die Kamera kippte gerade genug, um ein Gesicht hinter ihm zu zeigen. Ja, sie hatte Owen schon einmal gesehen.
    Es geht zu Ende , dachte sie, als das Licht flackerte und langsam erlosch. Auf diese Weise endet es. Auf diese Weise.
    Aldiss hatte die ganze Zeit über recht gehabt. Der Mörder hatte am Abendkurs teilgenommen.
    Matthew Owen war einer von Richard Aldiss’ Gefängniswächtern gewesen.

Iowa
    1994
    49
    Alex sah sich in dem kleinen Zimmer um. Die Luft war dick, stickig, Staub hing überall. Er reizte sie im Hals, und sie bedeckte ihren Mund mit ihrem gebeugten Arm. Sie trat in eine Ecke, griff nach einem der Bücher und …
    Der ganze Karton kippte nach vorn und stürzte zu Boden. Sie erstarrte, wartete darauf, dass jemand käme. Der Flur blieb leer. Leise, mit knochentrockenem Mund und pochendem Herzen kniete sie sich hin und hob ein weiteres Buch auf. Als sie sah, was es war, schnappte sie heftig nach Luft; der Schock traf sie wie ein Schlag auf die Brust.
    Namen.
    Die Lexika enthielten Namen, jeder Eintrag der Name eines anderen Mädchens. Und es waren alles Mädchen, Madeleine und Mary und Marybeth und Marissa. Familiennamen auch und …
    Ja. Adressen.
    Sie waren echt. So echt wie sie.
    Alex beugte sich nach unten und blätterte eines der Bücher durch. Es war roh gebunden, roter Faden war durch die Löcher gezogen, aber es war da. Körperlich. Sie konnte es aufheben und im Halbdunkel durchsehen. Und das tat sie, der Staub verstopfte ihre Luftröhre und ließ sie stumm nach Luft schnappen, aber sie machte weiter, blätterte um und las die Namen dieser Mädchen. Es gab Hunderte, vielleicht Tausende, jeder nach dem Namen der Stadt einsortiert. Als sie am Ende angelangt war, blätterte sie noch einmal zur Titelseite und schaute nach, wie das Buch hieß. Und auch das löste eine wilde Angst in ihr aus. Einen blinden Schrecken, als sie sah, als sie begriff, was diese Bücher waren. Was sie enthielten.
    Die Bücher hießen: Die Enzyklopädie der Toten.
    Ihr Autor war Paul Fallows.
    50
    Alex griff noch einmal nach unten und hob ein weiteres Buch hoch. Auf dem Boden lagen vielleicht fünfzig Stück, und der vollgestopfte Raum enthielt endlos viele Kartons. Wer sind diese Menschen?
    Während sie das nächste Buch durchblätterte, hörte sie etwas. Ein leises Geräusch, ein ganz winziges Schlurfen. Ihr Blut gefror. Sie schaute auf.
    Charlie Rutherford stand in der Tür.
    Zuerst konnte sie nichts sagen. Ihr versagte die Stimme, sie war stumm wie er. Der Mann sah sie, ohne mit der Wimper zu zucken, an, die Hände flach an die Seiten gelegt. Aus dem anderen Zimmer hörte man ein Hupen im Zeichentrickfilm, den hektischen Rhythmus von Kindermusik.
    »Charlie«, flüsterte sie. »Was sind das für Bücher? Gehören die deinem Dad?«
    Der Mann sagte nichts. Er stand einfach auf der Schwelle und beobachtete sie.
    »Sind das Leute, die dein Dad gekannt hat, Charlie? Sind das Frauen, die er getroffen hat, als er …«
    »Mom!«
    Die Stimme war die eines Kindes: laut, rebellisch. Und während er sprach, blitzte Bosheit in seinen Augen auf: Ich weiß, was du tust. Ich weiß, warum du hier bist.
    Lydia Rutherford brauchte nicht lange. Sie betrat das Zimmer, eine Hand über dem Mund. Alex versuchte, einen Schritt nach hinten zu machen, aber sie konnte nirgendwohin. Sie saß in der Falle.
    Die Frau begann etwas zu sagen, hielt jedoch inne. Dann, ihre Stimme so leise wie ein Flüstern, sagte sie: »Sie dürfen nicht hier drin sein.«
    »Entschuldigung«, brachte Alex heraus. »Ich gehe. Ich werde einfach nach Vermont zurückkehren und …«
    »Nein.« Lydia machte einen Schritt ins Zimmer. Jetzt lag so etwas wie ein Lächeln auf ihrem Gesicht, breit und animalisch. Sie kam Alex näher und streckte die Hand aus – und Alex zuckte zusammen. Die Frau nahm eine Strähne von Alex’ Haar und strich sie hinters Ohr.
    »Bitte«, keuchte Alex. »Bitte, ich werde alles tun. Alles.«
    Die Frau senkte den Blick. Sie sagte: »Ich weiß, dass Sie sich nach Charlie erkundigt haben. Er ist ein guter Junge. Ihm ist halt etwas zugestoßen. Ganz
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