Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit
Autoren: W. Somerset Maugham
Vom Netzwerk:
schneller, wenn er sich vorstellte, dass er vor diesen Werken stehen würde, die ihm bedeutsamer schienen als irgendwelche Kunstwerke sonst, weil sie zu seinem gequälten, unruhigen Herzen sprachen. Er hatte die großen Dichter gelesen, in denen sich die spanische Eigenart stärker widerspiegelte als in den Dichtern anderer Völker; denn sie hatten ihre Inspiration nicht von den Strömungen der Weltliteratur, sondern unmittelbar von den ausgedorrten, duftenden Ebenen und den bleichen Bergen ihres Landes empfangen. Nur noch wenige kurze Monate, und er würde überall um sich herum die Sprache hören, die der Seelengröße und Leidenschaft am meisten entsprach. Mit sicherem Gefühl hatte er gespürt, dass Andalusien für ihn zu sanft, zu sinnlich, ja wohl auch ein wenig zu gewöhnlich sein würde, um seine Inbrunst zu befriedigen. Viel lieber verweilte er in seinen Phantasien auf den winddurchwehten Weiten Kastiliens und der schroffen Großartigkeit von Aragón und León. Er wusste noch nicht, was diese unbekannten Welten für ihn bereithielten, aber fühlte, dass er dort zu einer Stärke und einem Ziel finden konnte, die ihm dabei helfen würden, die verschiedenen Wunder noch weit entlegenerer und fremderer Länder zu erkennen und zu verstehen.
    Denn das wäre nur der Anfang. Er hatte schon Verbindung mit den verschiedenen Schifffahrtsgesellschaften aufgenommen, die Ärzte auf ihren Schiffen mitführten. Er kannte ihre Routen genau. Er hatte sich erzählen lassen, was die Vorteile und Nachteile jedes einzelnen in Frage kommenden Schiffes waren. Die Orient-Linie und P. & O. waren bereits ausgeschieden. Es war schwer, auf diesen Schiffen eine Anstellung zu finden; außerdem hatten die medizinischen Angestellten dort wenig freie Zeit, da der Passagierverkehr sie ganz in Anspruch nahm. Aber es gab noch genügend Linien, die Frachtschiffe auf gemächliche Expeditionen in den Fernen Osten schickten, Schiffe, die in allen möglichen Häfen unterschiedlich lange anlegten, manchmal einen Tag oder zwei und manchmal vierzehn Tage lang, so dass man genügend Zeit für sich hatte, ja gelegentlich Reisen ins Innere des Landes unternehmen konnte. Es gab nur karges Gehalt, und das Essen war nicht besonders gut; deshalb herrschte keine große Nachfrage nach diesen Stellen. Hatte man sein Examen in London gemacht, so konnte man mit ziemlicher Sicherheit damit rechnen, eine Stelle zu finden. Da diese Schiffe keine Passagiere mit sich führten – höchstens einmal jemanden, der von einem abseits der gewöhnlichen Schifffahrtswege gelegenen Hafen geschäftlich zu einem andern fahren musste –, war das Leben an Bord freundlich und angenehm. Philip kannte alle Orte, die sie ansteuerten, auswendig. Bei jedem Namen hatte er eine Vision von tropischem Sonnenschein, zauberhaften Farben und schäumendem, geheimnisvollem, intensivem Leben. Leben! Das war es, was er ersehnte. Endlich einmal würde er das Leben selbst zu packen bekommen! Und vielleicht bestand die Möglichkeit, dass er von Tokio oder Schanghai aus auf eine andere Linie überwechselte und so zu den Inseln im Ostindischen Meer gelangte. Einen Arzt konnte man überall brauchen. Vielleicht würde sich eine Gelegenheit bieten, in Burma ins Innere des Landes zu gelangen, und was für reiche Dschungel könnte er in Sumatra und Borneo aufsuchen? Er war noch jung; noch spielte die Zeit keine Rolle für ihn. Nichts band ihn an England, keine Freunde; jahrelang könnte er so durch die Welt streunen, die Schönheit, die Vielfalt, das Wunder des Lebens kennenlernen.
    Nun war diese Sache geschehen. Er schob die Möglichkeit, dass Sally sich irrte, beiseite; er hatte ein seltsames Gefühl der Gewissheit. Es war nur zu wahrscheinlich; man konnte sehen, dass sie von der Natur dazu auserlesen war, Mutter vieler Kinder zu werden. Er wusste wohl, was er eigentlich zu tun hatte: sich durch nichts auch nur um Haaresbreite von seinen Plänen abbringen lassen. Er dachte an Griffith; er konnte sich vorstellen, mit welcher Gleichgültigkeit dieser junge Mann die Nachricht aufgenommen hätte; er hätte das als schreckliches Ärgernis empfunden und hätte sich auf der Stelle aus dem Staub gemacht wie ein kluger Bursche; er hätte das Mädchen verlassen, mochte sie mit ihren Schwierigkeiten allein fertig werden. Philip sagte sich, dass es geschehen war, weil es unvermeidlich war. Ihn traf keine größere Schuld als Sally. Sie war schließlich ein Mädchen, das die Welt und das Leben kannte. Sie hatte sich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher