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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit
Autoren: W. Somerset Maugham
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deutlich verrieten, dass sie sich des Humors ihrer Bemerkung bewusst war. Wenn sie sich trafen, reichten sie sich die Hand, und der Abschied ging genauso förmlich vor sich. Einmal lud Philip sie ein, zum Tee in seine Wohnung zu kommen, aber sie lehnte ab.
    »Nein, das tu ich nicht. Das würde komisch aussehen.«
    Zwischen ihnen wurde kein Liebeswort ausgetauscht. Sie schien sich nach nichts weiter als den gemeinsamen Spaziergängen zu sehnen. Andererseits wusste Philip bestimmt, dass sie gern mit ihm zusammen war. Er zerbrach sich den Kopf über sie; sie war noch genauso rätselhaft wie am Anfang ihrer Freundschaft. Er verstand ihr Verhalten nicht. Je mehr er sie jedoch kennenlernte, umso lieber mochte er sie. Sie war klug und zuverlässig, voller Selbstbeherrschung und besaß eine reizende Art von Aufrichtigkeit. Man spürte, dass man sich auf sie in jeder Lage verlassen konnte.
    »Du bist ein furchtbar guter Kerl«, sagte er einmal zu ihr, einfach aus dem Blauen.
    »Ich bin vermutlich nicht anders als andere auch«, antwortete sie.
    Er wusste, dass er sie nicht eigentlich liebte. Es war eine große Zuneigung zu ihr in ihm, und er hatte sie gern um sich, es war seltsam beruhigend. Das Gefühl, das er für sie empfand, war fast lächerlich einem neunzehnjährigen Ladenmädchen gegenüber: Er achtete sie sehr. Er bewunderte ihre wunderbare Gesundheit. Sie war ein herrliches Tier, ohne jeden Fehler – körperliche Vollkommenheit erfüllte ihn stets mit Ehrfurcht und Bewunderung. Vor ihr fühlte er sich unwürdig.
    Eines Tages, etwa drei Wochen nachdem sie nach London zurückgekommen waren, fiel ihm auf, dass sie ungewöhnlich schweigsam war. Der stets abgeklärte Ausdruck ihres Gesichtes war durch eine Falte zwischen den Augenbrauen verändert. Ein leichtes Stirnrunzeln.
    »Was ist los, Sally?«, fragte er.
    Sie schaute ihn nicht an, sondern vor sich hin, und die Farbe ihres Gesichtes verdunkelte sich.
    »Ich weiß nicht…«
    Er wusste sofort, was sie meinte. Das Herz stockte ihm einen Augenblick, das Blut wich aus seinem Gesicht.
    »Was meinst du? Hast du Angst, dass…?«
    Er blieb stehen. Er konnte nicht weitergehen. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass so etwas im Bereich des Möglichen lag. Dann sah er, dass ihre Lippen bebten. Sie gab sich Mühe, nicht zu weinen.
    »Ich weiß es noch nicht genau. Vielleicht ist auch alles in Ordnung.«
    Sie wanderten schweigend weiter, bis sie zur Ecke der Chancery Lane kamen, wo er sich gewöhnlich von ihr verabschiedete. Sie hielt ihm die Hand hin und lächelte.
    »Mach dir doch keine Sorgen deswegen. Hoffen wir, dass es gutgeht.«
    Er ging fort; in seinem Kopf tobten die Gedanken durcheinander. Was war er doch für ein Narr gewesen! Das war das Erste, was er dachte. Ein elender, erbärmlicher Narr! Er wiederholte sich das ein Dutzend Mal in einem Ansturm zorniger Gefühle. Er verachtete sich. Wie hatte er so etwas anrichten können? Er fragte sich jedoch zu gleicher Zeit, was er nun zu tun habe. Die Gedanken jagten einander; es war ein hoffnungsloses Durcheinander, als hätte er in einem Albtraum ein schwieriges Puzzle zu lösen. Es hatte alles so klar und eindeutig vor ihm gelegen, in Reichweite, alles, wonach er so lange gestrebt hatte, und nun musste er sich alles durch diese unfassbare Dummheit verbauen. Philip war nie imstande gewesen, einen Charakterfehler zu überwinden, von dem er wusste, dass er seinem starken Wunsch, ein geregeltes Leben zu führen, im Wege stand: seiner Leidenschaft, statt in der Gegenwart in der Zukunft zu leben. Sobald er sich in seiner Arbeit im Hospital zurechtgefunden hatte, hatte er bereits angefangen, seine Reisepläne weiterzuspinnen. Die letzten Jahre hindurch hatte er alle Gedanken an Zukünftiges beiseitezuschieben versucht, weil ihn das nur entmutigt hätte; jetzt aber, wo er dem Ziel so nahe war, hatte er sich seiner Sehnsucht, der er nur schwer widerstehen konnte, bedenkenlos hingegeben. Zuerst einmal wollte er nach Spanien fahren. Es war das Land seines Herzens; er war ganz durchdrungen von seinem Geist, der Romantik, der Farbigkeit, der Geschichte und Größe des Landes. Er spürte, dass es ihm eine Botschaft zu vermitteln hatte, die ihm kein Land sonst zu geben in der Lage war. Er kannte die schönen alten Städte bereits, als wäre er seit Kindheitstagen deren Straßen entlanggewandert: Córdoba, Sevilla, Toledo, León, Tarragona, Burgos. Die großen Maler Spaniens waren die Maler seiner Seele. Der Puls schlug ihm
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