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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit
Autoren: W. Somerset Maugham
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Verachtung, die ihm so oft entgegengeschlagen waren, hatten seinen Geist dem Inneren zugewandt; daraus waren diese Blumen erwachsen, die nie ihren Duft verlieren sollten. Dann erkannte er, dass das Normale eigentlich am allerseltensten zu finden ist. Jeder hatte eine Schwäche, körperlich oder geistig. Er dachte an alle Menschen, die er kennengelernt hatte. Die Welt war wie ein Krankensaal, es war weder Sinn noch Verstand darin. Vor seinem inneren Blick zog ein Zug vorüber: Menschen mit Gebrechen des Körpers oder des Geistes, manche mit Krankheiten des Fleisches, schwachen Herzen, schwachen Lungen, andere mit Krankheiten der Seele, Willensschwäche, der Gier nach Alkohol. In diesem Augenblick empfand er für sie alle ein heiliges Mitgefühl. Sie waren hilflose Werkzeuge in der Hand des blinden Schicksals. Er konnte Griffith seinen Verrat verzeihen und Mildred die Schmerzen, die sie ihm zugefügt hatte. Sie hatten nicht anders gekonnt. Das einzig Vernünftige war, das Gute in den Menschen anzunehmen und Geduld zu haben mit ihren Fehlern. Die Worte des sterbenden Gottes kamen ihm in den Sinn:
    Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
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    Er hatte sich mit Sally für Samstag in der National Gallery verabredet. Sie sollte kommen, sobald sie im Geschäft fertig wäre. Sie hatte eingewilligt, mit ihm essen zu gehen. Zwei Tage waren vergangen, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Seine jauchzende Freude hatte ihn keinen Augenblick verlassen. Es war ein so seliges Gefühl, dass er gar nicht versucht hatte, sie eher wiederzusehen. Er hatte sich immer wiederholt, was er ihr sagen würde und wie er es vorbringen wollte. Seine Ungeduld war kaum mehr erträglich. Er hatte Dr.   South geschrieben und jetzt ein Telegramm in der Tasche, das heute früh eingetroffen war: »Mumpsnarr wird entlassen. Wann kommen Sie?« Philip schritt die Parliament Street entlang. Der Tag war schön; eine leuchtende, frostklare Sonne ließ das Licht in den Straßen tanzen. Die Straßen waren belebt. Ein feiner Nebel lag über der Ferne; er verlieh den edlen Umrissen der Gebäude eine wunderbare Weichheit. Philip überquerte den Trafalgar Square. Plötzlich fuhr es ihm wie ein Stich durchs Herz; er sah eine Frau vor sich, die er für Mildred hielt. Sie hatte die gleiche Figur und den etwas schleppenden Gang wie sie. Unbewusst beschleunigte er seine Schritte; das Herz klopfte ihm. Er eilte schnell weiter, um sie zu überholen. Die Frau wandte sich um: Es war eine völlig Unbekannte. Er sah das Gesicht einer weit älteren Person mit gelblicher, runzliger Haut. Philip verlangsamte den Schritt. Er fühlte sich unendlich erleichtert, und dennoch war es nicht nur Erleichterung, was er empfand: Auch Enttäuschung schwang mit, er fühlte ein Grauen vor sich selbst in sich aufsteigen. Würde er von dieser Leidenschaft denn nie ganz frei werden? Er spürte, dass trotz allem auf dem Grund seines Herzens ein verzweifeltes Sehnen nach dieser schrecklichen Frau als Rest übrigbleiben würde. Diese Liebe hatte ihm so viel Leid gebracht, dass er sich nie, nie ganz davon würde befreien können. Der Tod allein würde dies Verlangen löschen können.
    Er riss sich den Schmerz aus dem Herzen. Er dachte an Sally, an ihre lieben blauen Augen, und fast unbewusst erschien ein Lächeln auf seinen Lippen. Er stieg die Stufen zur National Gallery hinauf und setzte sich im ersten Raum nieder, damit er sie gleich sah, wenn sie eintrat. Die Gegenwart von Bildern war immer ein Trost für ihn. Er schaute sich keines besonders an, aber er ließ die Herrlichkeit der Farben, die Schönheit der Linien auf seine Seele wirken. Seine Phantasie war ganz von Sally erfüllt. Es würde schön sein, sie von London fortzuführen, wo sie eine ungewöhnliche Erscheinung war, wie eine Kornblume unter Orchideen und Azaleen. Er hatte in den Hopfengärten von Kent erfahren, dass sie nicht in die Stadt gehörte, er war gewiss, dass sie unter dem sanften Himmel von Dorset zu seltener Schönheit erblühen würde. Sie kam herein, und er stand auf und ging ihr entgegen. Sie war in Schwarz, weiße Manschetten umschlossen die Armgelenke und ein großer weißer Kragen den Hals. Sie gaben sich die Hand.
    »Hast du lange gewartet?«
    »Nein. Zehn Minuten. Bist du hungrig?«
    »Nicht besonders.«
    »Dann wollen wir uns noch ein bisschen hierhersetzen, ja?«
    »Wenn du magst.«
    Sie saßen still, ohne zu sprechen, nebeneinander. Philip war froh, sie so nahe bei sich zu haben. Ihre strahlende
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