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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit
Autoren: W. Somerset Maugham
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hätte sie dazu bringen können, sich ihm hinzugeben? Wenn nicht Leidenschaft für ihn? Wenn sie sich in ihren Vetter Peter Gann verliebt hätte, hätte ihn das nicht weiter verwundert. Peter Gann war groß, schlank und gut gewachsen; sein Gesicht war sonnenverbrannt und sein Gang weitausholend und leicht. Philip fragte sich, was sie denn wohl an ihm finden konnte. Er wusste nicht, ob sie ihn so liebte, wie er sich Liebe vorstellte. Und dennoch. Er war von ihrer Reinheit überzeugt. Er hatte eine unbestimmte Vermutung, dass viele Dinge zusammengekommen waren: Empfindungen, die sich in ihr regten, ohne dass sie sich dessen bewusst war, die Trunkenheit von der Luft, vom Hopfen und von der Nacht, die gesunden Instinkte einer natürlich empfindenden Frau, eine überfließende Zärtlichkeit, eine Zuneigung, die zugleich etwas Mütterliches und Schwesterliches in sich schloss. Sie gab alles, was sie geben konnte, denn ihr Herz war voller Güte und Mitleid.
    Er hörte vom Weg her einen Schritt; dann trat eine Gestalt aus der Dunkelheit.
    »Sally«, murmelte er.
    Sie blieb stehen und kam dann zum Zaun, und mit ihr kam der süße, saubere Geruch des Landes. Es war, als trüge sie den Duft mit sich, der aus frisch gemähtem Heu aufsteigt, den Geschmack des reifen Hopfens, die Frische des jungen Grases. Ihre Lippen waren weich und voll auf den seinen, und ihr lieblicher, starker Körper lag fest in seinen Armen.
    »Milch und Honig«, sagte er. »Wie Milch und Honig bist du.«
    Er hieß sie die Augen schließen und küsste ihre Lider, erst das eine, dann das andere. Ihr starker, muskulöser Arm war bis zum Ellbogen unbedeckt. Er glitt mit der Hand darüber; wie unfassbar schön er war, er leuchtete in der Dunkelheit wie die Haut, die Rubens gemalt hatte: erstaunlich hell und durchsichtig, auf der einen Seite waren kleine goldene Härchen. Es war der Arm einer germanischen Göttin, aber keine Unsterbliche besaß solch erlesene, warme Natürlichkeit. Philip dachte an einen ländlichen Garten, in dem all die kostbaren Blumen stehen, die im Herzen eines jeden Menschen blühen: Stockrosen und die roten und weißen, die York und Lancaster heißen, Passionsblumen und Bartnelken, Akelei, Rittersporn und Steinbrech.
    »Wie kannst du mich liebhaben?«, sagte er. »Ich bin unbedeutend, ein Krüppel, durchschnittlich und hässlich.«
    Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf die Lippen.
    »Du bist ein Dummer, das bist du«, sagte sie.
    121
     
    Als die Hopfenernte vorüber war, fuhr Philip mit den Athelnys nach London zurück. Er hatte die Nachricht in der Tasche, dass er zum assistierenden Anstaltsarzt im St.   Luke’s Hospital ernannt worden war. Er mietete sich bescheidene Zimmer in Westminster und trat seine Stelle Anfang Oktober an. Die Arbeit war interessant und abwechslungsreich. Er lernte täglich etwas Neues dazu; er fühlte, dass er eine Funktion hatte; Sally sah er häufig. Das Leben war eine äußerst angenehme Sache. Er war gegen sechs Uhr fertig, wenn er nicht gerade Sprechstunde in der ambulanten Station hatte; dann ging er zu dem Geschäft, in dem Sally arbeitete, und erwartete sie draußen. Es waren immer etliche junge Männer da, die beim Boteneingang oder ein bisschen weiter weg an der Ecke herumstanden; die Mädchen, die immer zu zweit oder in kleinen Grüppchen herauskamen, stießen einander mit den Ellbogen an und kicherten, wenn sie die Wartenden erkannten. Sally sah jetzt in ihrem schwarzen, schlichten Kleid ganz anders aus als das kleine Landmädchen, das mit ihm zusammen Hopfen gepflückt hatte. Sie ging mit schnellen Schritten aus dem Geschäft, verlangsamte sie jedoch, wenn sie sich trafen, und grüßte ihn mit ihrem ruhigen Lächeln. Sie wanderten gemeinsam durch die belebten Straßen. Er erzählte ihr von seiner Arbeit im Hospital, und sie berichtete von ihrer Tätigkeit im Geschäft. Bald wusste er die Namen aller Mädchen, mit denen sie zusammenarbeitete. Er entdeckte, dass Sally einen recht scharfen Sinn für alles Lächerliche besaß, wenn sie sich auch damit zurückhielt. Sie machte über die Mädchen oder die Männer, die ihre Vorgesetzten waren, Bemerkungen, über die er lachen musste, weil sie so unerwartet ulkig klangen. Sie hatte eine sehr eigene Art, etwas zu erzählen; sehr ernst, als wäre nichts Spaßiges dabei, und doch verriet sie dabei so viel Scharfblick, dass er in vergnügtes Gelächter ausbrach. Dann sandte sie ihm einen kleinen Blick zu, bei dem die lächelnden Augen
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