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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister
Autoren: Tess Gerritsen
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müsste. Aber sie haben sich offenbar glänzend verstanden. Letzten Monat hat er sich zwei ganze Wochen freigenommen, um bei ihr sein zu können, nachdem ihre Mutter gestorben war. Was schätzen Sie, wie viel ein orthopädischer Chirurg in zwei Wochen verdient, hm? Fünfzehn, zwanzigtausend Dollar? Ganz schön teurer Trost, den er ihr da gespendet hat.«
    »Sie wird ihn gebraucht haben.«
    Korsak zuckte mit den Achseln. »Trotzdem.«
    »Sie haben also keinen Grund finden können, weshalb sie ihn hätte verlassen sollen.«
    »Geschweige denn umlegen.«
    Rizzoli blickte zum Fenster hinaus. Die Nachbarhäuser waren durch Bäume und Sträucher vollständig verdeckt.
    »Sie sagten, der Todeszeitpunkt habe zwischen Mitternacht und drei Uhr gelegen?«
    »Ja.«
    »Haben die Nachbarn irgendetwas gehört?«
    »Die Nachbarn zur Linken sind zurzeit in Paris – oh, là, là. Und die auf der rechten Seite haben die ganze Nacht friedlich geschlafen.«
    »Gewaltsames Eindringen?«
    »Ja, durch das Küchenfenster. Der Täter hat das Fliegengitter ausgehebelt und einen Glasschneider benutzt. Im Blumenbeet sind Abdrücke von Schuhen, Größe zweiundvierzig. Dieselben Sohlen haben auch Blutspuren in diesem Zimmer hinterlassen.« Er nahm ein Taschentuch heraus und wischte sich die feuchte Stirn. Korsak gehörte zu den bedauernswerten Menschen, für die kein Deo stark genug ist. In den paar Minuten seit ihrem Eintreffen hatten sich die Schweißflecken auf seinem Hemd noch weiter ausgebreitet.
    »Okay, ziehen wir ihn erst mal von der Wand weg«, sagte einer der Männer vom Leichenschauhaus. »Wir lassen ihn einfach auf das Laken fallen.«
    »Pass auf den Kopf auf! Er rutscht weg!«
    »Au, verdammt!«
    Rizzoli und Korsak verstummten, als die beiden Dr. Yeager seitlich auf ein Einweglaken legten. Ober- und Unterkörper bildeten einen rechten Winkel, und in dieser Position war die Leiche erstarrt. Die beiden Männer überlegten hin und her, wie sie Dr. Yeager in dieser grotesken Haltung am besten auf die Bahre legen sollten.
    Rizzolis Blick fiel plötzlich auf ein kleines weißes Etwas, das an der Stelle, wo der Tote gesessen hatte, am Boden lag. Sie bückte sich, um es aufzuheben. Es schien ein winziger Porzellansplitter zu sein.
    »Das ist von der kaputten Teetasse«, sagte Korsak.
    »Was?«
    »Neben dem Opfer haben wir eine Teetasse mit Untertasse gefunden. Sah aus, als wäre sie ihm vom Schoß gefallen oder so. Wir haben sie schon eingepackt fürs Labor.« Er bemerkte ihren verwirrten Blick und zuckte mit den Achseln. »Fragen Sie mich nicht.«
    »Ein symbolischer Gegenstand?«
    »Ja, bestimmt. Teezeremonie für einen Toten.«
    Sie starrte die kleine Porzellanscherbe in ihrer Hand an und grübelte über ihre Bedeutung nach. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Irgendetwas kam ihr auf erschreckende Weise vertraut vor. Eine Leiche mit durchschnittener Kehle. Fesselung mit Klebeband. Nächtlicher Einbruch durch ein Fenster. Das oder die Opfer im Schlaf überrascht.
    Und eine vermisste Frau.
    »Wo ist das Schlafzimmer?«, fragte sie. Und wollte es doch nicht sehen. Weil sie Angst davor hatte.
    »Okay. Das ist es, was ich Ihnen zeigen wollte.«
    Gerahmte Schwarzweißfotografien hingen an den Wänden des Flurs, der zum Schlafzimmer führte. Es waren nicht die Schnappschüsse lächelnder Familienmitglieder, wie man sie in den meisten Häusern findet, sondern unterkühlte weibliche Akte – anonyme Körper, das Gesicht verdeckt oder von der Kamera abgewandt. Eine Frau, die die Arme um einen Baumstamm schlang und ihre zarte Haut an die raue Borke presste. Eine Sitzende, vornübergebeugt, so dass ihr üppiges langes Haar zwischen ihren bloßen Schenkeln herabfiel. Eine Stehende, die sich nach dem Himmel reckte, die nackte Haut von Schweißperlen bedeckt wie nach einer großen körperlichen Anstrengung. Rizzoli blieb stehen, um ein Foto genauer in Augenschein zu nehmen, das irgendjemand im Vorbeigehen verrückt hatte.
    »Das ist alles ein und dieselbe Frau«, stellte sie fest.
    »Das ist sie. «
    »Mrs. Yeager?«
    »Standen wohl auf abartige Spielchen, die beiden, hm?«
    Sie betrachtete Gail Yeagers wohlgeformten und durchtrainierten Körper. »Ich finde das ganz und gar nicht abartig. Es sind wunderschöne Bilder.«
    »Ja, gut, wie Sie meinen. Das Schlafzimmer ist hier.« Er zeigte auf die Tür.
    Rizzoli blieb an der Schwelle stehen. Sie erblickte ein französisches Bett, die Laken zurückgeschlagen, als ob die Schlafenden plötzlich geweckt worden
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