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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister
Autoren: Tess Gerritsen
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schien, und sie hatte Warren Hoyts unheilvolle Präsenz gespürt.
    Das war natürlich unmöglich. Hoyt saß im Gefängnis, genau dort, wo er hingehörte. Und doch – wenn sie an dieses Haus in Newton dachte, überlief es sie eiskalt, so wohlbekannt war ihr das Szenario des Schreckens erschienen.
    Sie war versucht, Thomas Moore anzurufen, mit dem sie bei der Aufklärung der Hoyt-Morde zusammengearbeitet hatte. Er kannte die Einzelheiten ebenso gut wie sie, und er wusste, wie schwer es war, sich aus dem Netz der Angst zu befreien, das Hoyt um sie alle gesponnen hatte. Aber nach Moores Heirat hatte sein Leben eine andere Richtung genommen als das ihre. Es war nun einmal sein neues Glück, was zwischen ihm und Rizzoli stand. Glückliche Menschen leben in einer eigenen Welt; sie atmen eine andere Luft, und für sie scheint das Gesetz der Schwerkraft nicht zu gelten. Die Veränderung in ihrem Verhältnis mochte Moore nicht bewusst sein, doch Rizzoli hatte sie gespürt; sie trauerte dem Verlorenen nach und schämte sich zugleich, weil sie ihm sein Glück neidete. Und sie schämte sich auch für ihre Eifersucht auf die Frau, die Moores Herz erobert hatte. Vor wenigen Tagen erst hatte sie seine Postkarte aus London bekommen, wo er mit Catherine Urlaub machte. Nur ein kurzer Gruß, auf die Rückseite einer Ansichtskarte des Scotland-Yard-Museums gekritzelt, ein paar Zeilen, in denen er Rizzoli wissen ließ, dass sie einen angenehmen Aufenthalt hatten und in ihrer Welt alles in Ordnung war. Wenn sie an diese Karte mit ihrer vor Optimismus überschäumenden Botschaft dachte, dann war ihr klar, dass sie ihn nicht mit diesem Fall belästigen durfte. Sie durfte nicht zulassen, dass Warren Hoyts Schatten das Leben der beiden noch einmal trübte.
    So saß sie nur da und hörte den Verkehr unten auf der Straße vorüberrauschen – den Lärm, der die vollkommene Stille in ihrer Wohnung nur noch zu verstärken schien. Sie blickte sich in ihrem karg möblierten Wohnzimmer um, sah die kahlen Wände, an denen sie immer noch kein einziges Bild aufgehängt hatte. Die einzige Dekoration – falls das die richtige Bezeichnung war – bestand aus einem Stadtplan von Boston, der über ihrem Esstisch hing. Vor einem Jahr war die Karte mit farbigen Stiften gespickt gewesen, die sämtliche Morde des Chirurgen markierten. So begierig auf Anerkennung war sie gewesen, so sehr hatte sie sich gewünscht, dass ihre männlichen Kollegen sie als ihresgleichen akzeptierten, dass die Jagd nach dem Killer ihr ganzes Leben ausgefüllt hatte – bis in ihre Wohnung hinein, wo sie ihre Mahlzeiten mit der blutigen Spur des Killers vor Augen eingenommen hatte.
    Jetzt waren die Stifte verschwunden, die das Revier des Chirurgen bezeichnet hatten, doch der Stadtplan war noch da und wartete auf die Markierungen, mit denen sie die Streifzüge eines neuen Killers nachzeichnen würde. Sie fragte sich, was das wohl über sie selbst aussagte, welche beklagenswerte Deutung es zuließ, dass auch nach zwei Jahren in dieser Wohnung ihr einziger Wandschmuck dieser Stadtplan von Boston war. Mein Revier, dachte sie.
    Meine Welt.
    Im Haus der Yeagers brannte kein Licht, als Rizzoli um zehn nach neun in die Auffahrt einbog. Sie war die Erste, und da sie keinen Schlüssel zu dem Haus hatte, blieb sie im Wagen sitzen, während sie auf die anderen wartete. Die Fenster hatte sie heruntergedreht, um die kühle Nachtluft hereinzulassen. Das Haus stand in einer ruhigen Sackgasse, und auch bei den Nachbarn zur Linken und zur Rechten war alles dunkel. Das würde ihnen an diesem Abend zum Vorteil gereichen, da zu viele zusätzliche Lichtquellen ihre Suche nur behindern würden. Aber in diesem Augenblick, da sie allein in ihrem Wagen saß und zu dem Haus des Schreckens hinübersah, sehnte sie sich nach hellem Licht und menschlicher Gesellschaft. Die Fenster des Yeagerschen Hauses starrten sie an wie die glasigen Augen einer Leiche. Die Schatten um sie herum nahmen immer neue, unheilvolle Formen an. Sie nahm ihre Waffe aus der Handtasche, entsicherte sie und legte sie auf ihren Schoß. Dann erst wurde sie ein wenig ruhiger.
    Im Rückspiegel tauchten Scheinwerfer auf. Sie drehte sich um und sah zu ihrer Erleichterung den Transporter der Spurensicherung hinter ihr einparken. Sogleich steckte sie die Pistole wieder ein.
    Ein junger Mann mit breiten, muskulösen Schultern stieg aus dem Van und kam auf ihren Wagen zu. Als er sich bückte, um durch das Fahrerfenster zu schauen, sah sie seinen
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