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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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stehen. Ein Busunglück in Spanien, das ich von Herzen bedaure, das Licht ist zu hell, die Sonne steht direkt über mir und grinst böse.
    Es gibt Tornados und Waldbrände, Überschwemmungen und das übliche Wettertheater. Ich komme zu den Seiten mit faszinierender Hongkong-Politik. Und dann zum Lokalteil, der mit dem Foto zweier mir unangenehm vertrauter Menschen beginnt. Die schwierige Bekannte hält lächelnd ihren Armstumpf in die Kamera, neben ihr steht, ebenfalls guter Laune, der unsichtbare Herr.
    Der Artikel ist kurz und verrät, dass ein ausländisches Paar verhaftet werden konnte, denen Anstiftung zum Selbstmord, Besitz von Rauschmitteln sowie Geiselnahme vorgeworfenwerden. Die beiden Ausländer würden an ihre Heimatländer ausgeliefert, die Geiseln medizinisch betreut.
    In einem Kasten ist die Presseerklärung der beiden abgedruckt, und ich staune nur kurz, dass Geiselnehmer heute Pressemitteilungen abgeben, vielleicht beschäftigen sie auch einen PR-Berater. Aber das ist wieder diese große Traurigkeit, dass man schreien muss, um auf sich aufmerksam zu machen, und wie erniedrigend die Vorstellung, man wäre Terrorist, und keiner würde davon Notiz nehmen und die wunderbaren Terrorakte würden als normale Naturkatastrophen verhandelt. Das Paar berichtet in seiner Pressenotiz Eigentümliches.
    Was ich verstehe, denn mein Englisch ist weit davon entfernt, brillant zu sein, ist vor allem, dass sie alte Werte wiederherstellen wollen. Eine Welt, in der es den Mittelstand noch gibt, angesehen und ohne Sorge. Sie wollen kleine Quartierläden, Schneider, die sie grüßen, und Firmenbesitzer, die ihrer Belegschaft noch Weihnachtspakete schenken. Sie bemühen, wie alle Machtlosen, die Moral, und deren Zerstörung schreiben sie den üblichen Verdächtigen zu, den Ausländern, Künstlern, Homosexuellen, den Jugendlichen und den Gammlern. Das Ziel der Gruppierung, der sie angehören, ist es, alle Schädlinge dieser Welt zu entnehmen und einer anderen zuzuführen. Zu den von ihnen genommenen drei Geiseln äußern sie sich unklar, es werden persönliche Motive vermutet.
    Ich lese die Seite der Zeitung und verstehe nichts, außer dass die beiden Menschen, die aus meiner Vergangenheit befremdlich in mein jetziges Leben lappen, am Tod der beiden reizenden Homosexuellen schuld sind, dass sie in Verbindung mit dem Zwerg stehen, und alles wirkt, als sei es aus einerbefremdlichen TV-Serie, einer, die mit den Vorurteilen der Menschen spielt und an niedrigste Instinkte appelliert, was an sich schon wieder reizend ist, denn wie anders als nieder können Instinkte sein. Und was kommt danach? Ist es dem Menschen gelungen, eine adäquate Alternative zu seinen Instinkten zu entwickeln?
    Die beiden aus der Vergangenheit als Symbole dessen, was mich zum Menschenfeind hat werden lassen. Die Revolution der grauen Mäuse. Der Eiferer, der Selbstgerechten, der Religiösen, der Moralischen, der Kunsthassenden, der biederen Gartenzwerge auf den Betonrampen der Einfamilienhäuser, der Unkrautbekämpfer, der Neidischen, Bitteren, Heimatschützer.
    Ich studiere das Foto der beiden genauer, im Hintergrund chinesische Polizisten in ihren Village-People-Uniformen, ein Schatten fällt ins Bild, die Umrisse eines sehr großen Mannes.
    Ich starre das Bild an und bin versucht, einen Gedanken zu entwickeln, doch werde ich abgelenkt, kurz bevor er sich in eine ordentlich, Form bringen kann.
    Kim steht neben mir und sagt: »Bitte, komm wieder nach Hause.«

Damals.
Vor einer Stunde.
    Wir waren zurück in die Wohnung des Masseurs gegangen. Kim hatte eine Zeitlang geschwiegen und dann gesagt: »Die Prostituierte bei uns in der Wohnung, das ist meine Mutter.« Ich versuchte den Satz zu verstehen, war aber zu abgelenkt durch eine neue Ladung Tintenfische, die in diesem Augenblick in das Plastikbecken vor einem Fischrestaurant gekippt wurden. Ich hatte das Gefühl, die Tiere schreien zu hören, und fragte mich, ob die anderen das nicht hören konnten oder nicht wollten. Die Arme der Tintenfische wanden sich, und ich vermeinte sie weinen zu sehen. »Es ist uns völlig egal, ob sie sich vielleicht genauso fühlen, wie wir es täten, warteten wir auf unsere Hinrichtung. Es ist uns ja auch egal, wie sich unser Nachbar fühlt oder die langweilige Dame an der Kasse in dem Laden, in dem ich mir jetzt gleich einen gepflegten Tropfen gönnen werde«, sagte ich. Und Kim, die mir ebenso wenig zugehört zu haben schien wie ich ihr, antwortete nicht: »Die ganze
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