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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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sie stieß mich jede Nacht von sich, im Schlaf, ohne sich am Morgen daran zu erinnern. Bei der Untersuchung durch die Frauenärztin erfuhren wir dann, dass unser Kind ein Down-Syndrom haben würde. Meine Frau war völlig starr, wie erfroren saß sie da, und die Ärztin versuchte sie zu beruhigen, indem sie sagte, dass es füreine medizinische Lösung noch nicht zu spät sei. ›Ich soll mein Kind töten?‹ fragte meine Frau ganz leise, ›ich soll ein kleines Kind mit schrägen Augen und liebem Lächeln töten?‹ Die Ärztin erklärte ihr, dass so ein Kind eine lebenslange Aufgabe wäre, und wenn wir einmal stürben, wäre es sehr hilflos auf der Welt und sehr unglücklich. Sie zählte uns so lange die Vorteile einer Abtreibung auf, bis meine Frau die Schultern zuckte und sagte: ›Wenn es für das Kind das Beste ist.‹ Aber ich glaube heute, sie wusste da schon nicht mehr, was sie eigentlich sagte. Meine Frau sprach kein Wort mit mir, als wir in der nächsten Woche in die Klinik gingen. Ich gebe zu, dass ich nicht unglücklich war über die Entwicklung. Ich dachte, das würde sich alles wieder einrenken. Ich hatte ja gesehen, wie glücklich sie sein konnte. Sie würde es wieder werden, doch diesmal durch mich.
    Als alles vorbei war, umarmte ich sie und versuchte sie aufzuheitern, mit den Plänen für unsere Zukunft. Doch meine Frau ließ sich nicht aufheitern. Sie brauchte wohl noch Zeit, um über den Verlust hinwegzukommen, dachte ich. Das denke ich bis heute. Kommen Sie«, sagte Jack, und ich folgte ihm in die Etage über dem Café, in seine Wohnung.
    Am Fenster des Schlafzimmers saß leise summend eine Chinesin, die nicht aufblickte, als wir das Zimmer betraten. Jack ging zu ihr, streichelte sie, und sie schaute ihn an, mit einem Blick, der klarmachte, dass sie ihn nicht erkannte.
    Jack ging in die Küche, und ich hörte, wie er das Gebäckstück, das für den Mann bestimmt war, in den Mülleimer warf.
    Zu sagen fand ich nichts, ich stand auf, meinen Weg fortzusetzen.

Heute.
Vormittag.
    Mein Weg aus der Wohnung in den Laden, wo ich mir diverse Getränke besorgen will, führt am Schlafzimmer des Masseurs vorbei, dessen Tür ungewohnt offen steht. Als ich natürlich in den Raum schaue, sehe ich neben dem Masseur im Bett die Prostituierte der Insel. Das Bild verblüfft mich so stark, dass ich nicht, wie ich es als höflicher Mensch unter normalen Bedingungen getan hätte, schnell weiterlaufe. Ich stehe und starre die beiden an, die sehr weit voneinander entfernt liegen. Wäre ich nicht bereits gestorben, würde ich jetzt vielleicht traurig sein, wegen der Möglichkeit, die sowieso nie bestanden hatte. Ich sehe die beiden Schlafenden an, und sehr langsam tauchen Bilder auf, die sich zusammensetzen, irgendwo im Hirn, um dann zu zerplatzen. Sie zerplatzen tatsächlich, das ist interessant, denke ich, und das Am-Fenster-Sitzen-und-Teetrinken ist das erste Bild, das ich zerstöre, es platzt und fällt als Regen in meinen Kopf. Ich werde nicht erleben, wie Kim ihren ersten Freund an den Ort bringt, den ich dann als mein Zuhause bezeichnet hätte. Ich werde nicht neben dem Masseur in diesem Bett liegen, und dieses Bild verendet besonders rasant, denn ich möchte nicht neben ihm liegen. Was mich wirklich ratlos macht, ist das Hinfälligwerden einer Alternative zum: ein Flugzeug besteigen, nach Europa fliegen und mit dem Schlüsselbund mein altes Leben öffnen, das außer Haus sein wird, wenn ich in den Raum trete. Es wird bald Frühling werden im Tessin, wie sollich den überstehen, im Garten sitzend und auf den leeren Stuhl starrend, mir gegenüber. Ich verlasse die Wohnung, ignoriere Kraft meines unbändigen Willens den Alkoholladen und gehe in das Café, das auf der letzten Ecke der Insel steht, wo ein fünfhundert Meter langer Steg zu dem auf dem Meer schwimmenden Bootsanlegerponton führt. Ein chinesisches Paar hat hier alles imitiert, was der westliche, linksaktive, ökologische Mensch zum Glücklichsein benötigt. Ein Windspiel über dem Eingang, Traumfänger in der Toilette, organischer Tee aus fairem Anbau, Gebäckteile ohne Zucker und mit der Kraft unterdrückter Kornrassen. In einem Ständer liegen die neuesten englischsprachigen Zeitungen aus, und ich nehme mir eine Hongkong Times. Nicht, dass mich irgendetwas, was in einer Zeitung geschrieben sein könnte, interessieren würde, ich habe allein keine Motivation, wieder starr geradeaus zu schauen, denn ich kenne das Geradeaus zu gut.
    Europa scheint noch zu
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