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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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Monat.
    Montag und Freitag fuhr ich nach Hongkong und machte meine Tour durch die Krankenhäuser und Polizeistationen. Die arme Irre kommt wieder, mochten sie gesagt haben, die Polizisten, Schwestern und die Barmädchen. Wenn sie mich sahen, zuckten sie bereits in übertriebener Art die Schultern und schüttelten hektisch den Kopf. Schon gut, ich ging ja wieder, zurück in die Anstalt.
    Jeden Montag und Freitag hatte ich zu tun, ich hoffte zwar kaum mehr auf einen Erfolg meiner Suche, doch ich hatte eine Aufgabe. Das Problem waren die restlichen Tage, an denen ich wartete. Auf eine Idee, auf ein Wunder, auf einen Zustand, der nicht betäubte Panik war. Die anderen Tage, die Problemtage, verliefen ohne Übergang, tropften gelb in eine Schüssel, die unter einem Leck in einem alten Dach stand.
    Vor einem Monat begann ich, mir einen Tagesablauf zu gestalten, der aus täglichen Spaziergängen, Nahrungsaufnahme zu immer gleichen Uhrzeiten und dem Zählen von Gegenständen bestand.
    Ich suchte während des Tages all die Orte auf, die unsere Orte gewesen waren, vermutlich, um noch etwas von ihm zu spüren, in der Luft, auf dem Mobiliar. Ich begann in unserem Frühstückscafé, bei Jack. Sein kleines Café liegt am Weg zum Strand. Jack hatte uns in den Wochen, die wir gemeinsam hier waren, jeden Morgen ohne nachzufragen ein Gebäckteil und einen Milchkaffee an unseren Tisch gebracht und hatte sichwahnsinnig gefreut, dass er uns wiedererkannte in dem Heer der weißgesichtigen Touristen und Zugezogenen, die für ihn vermutlich kaum auseinanderzuhalten waren. Wir hatten nach drei Wochen ein Café am Bootsanleger entdeckt, wo es das weitaus bessere Frühstück gab, doch hatten wir es nicht fertiggebracht, Jack zu verlassen. Nun saß ich alleine bei ihm, und er stand vor mir, mit dem zweiten Gedeck in der Hand. »Kommt Ihr Mann noch?« fragte er freundlich, und es schien, als hätte ich nur darauf gewartet. Dass endlich mal einer fragen wollte! Dass sich einer an ihn erinnerte! Und ich dadurch einsah, dass ich nicht wahnsinnig war und mir den Mann nur eingebildet hatte und mein vergangenes Leben, denn es machte mir klar, dass ich keine Chinesin und einer Anstalt entlaufen war.
    »Er ist verschwunden. Nach Hongkong gefahren und nicht wiedergekommen«, sagte ich.
    Der Verlust eines Familienmitgliedes ist ein Ereignis, dem man nicht jeden Tag begegnet, Jack schien erregt, und er hatte tausend Ideen, wo ich den Mann zu suchen hätte und wo ich doch schon gesucht hatte. Als ihm nichts mehr einfiel, was ich noch hätte unternehmen können, schüttelte er traurig den Kopf und brachte den Kaffee und das Gebäckteil, das für den Mann bestimmt war, wieder in seine Küche.
    Das Gedeck verschwinden zu sehen hieß, schon wieder Abschied nehmen zu müssen, wobei ich ja nie hatte Abschied nehmen dürfen. Ich saß auf dem Platz, auf dem ich die letzten Wochen jeden Morgen gesessen hatte, und begann die Passanten zu zählen, die auf der Gasse an mir vorbeischwammen. Nachdem vielleicht eine Stunde vergangen war, setzte sich Jack zu mir. Er schwieg ein paar Minuten und beganndann zu reden. Leise, wie man mit einem kranken Menschen spricht.
    »Meine Frau wurde schwanger. Normal. Frauen werden ja irgendwann schwanger. Aber in ihrem Fall war das ein großes Glück, denn sie hatte ihre Familie verloren, als sie ein Kind war, darum wuchs sie in einem Heim auf. Meine Frau strahlte immer eine merkwürdige Traurigkeit aus, und wenn sie einen Raum betrat, wurde es ein wenig klamm und kalt, und allen Anwesenden war, als ob sie ein kleines Kind sähen, das am Grab seiner toten Mutter stand und sagte: ›Mami, kommst du heute Abend zu mir ans Bett?‹ Es war so eine Stimmung um sie, und als sie schwanger wurde, sah ich sie zum ersten Mal so glücklich, dass ich fast eifersüchtig auf den neuen Menschen wurde, denn so ein Strahlen hatte ich nie auf ihr Gesicht legen könne, selbst nicht, als wir ganz am Beginn sehr verliebt gewesen waren. Ich schämte mich dafür, aber ich muss sagen, je länger ihre Schwangerschaft andauerte, je ausgelassener sie durch die Wohnung hüpfte, umso größer wurde meine Angst vor dem Kind, das in ihr wuchs. Ich würde meine Frau verlieren, dachte ich, sie würde mit dem Kind in einem Bett liegen, in dem für mich kein Platz mehr wäre. Sie würde vertraulich mit dem Kind tuscheln, und beide würden verstummen, wenn ich mich ihnen näherte.
    Ich konnte nicht mehr schlafen vor Eifersucht und Angst. Ich umklammerte meine Frau, und
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