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Der Mann der nicht zu hängen war

Der Mann der nicht zu hängen war

Titel: Der Mann der nicht zu hängen war
Autoren: Pierre Bellemare
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weiter, wir brauchen einfach sein Zimmer, die Kinder werden immer größer — wir haben keinen Platz mehr für ihn! Das muß er doch einsehen! Morgen gehe ich zum Altenheim und frag’ mal nach, ob sie ihn aufnehmen können.« — Der Schwiegersohn hatte sehr leise gesprochen, aber der Opa mag zwar alt sein, taub ist er deswegen aber noch lange nicht! Er hat alles gehört. Und heute morgen beim Frühstück hat schließlich der Schwiegersohn — dieses Mal laut, bestimmt und übertrieben freundlich erklärt:
    »Ich habe mich beim Altenheim erkundigt, es geht in Ordnung. Du wirst es dort bestimmt gut haben. Du bist doch gesund und rüstig und kommst in die Abteilung der >fröhlichen Senioren<. Was meinst du dazu?«
    Also auch noch fröhlich! Sonst noch was! Wenn der Opa noch genügend Kraft hätte, so würde er seinem Schwiegersohn die Nase plattdrücken. Nur so, damit auch er fröhlicher aussieht. Und jetzt sitzt er allein auf der Bank auf dem kleinen, verträumten Platz.
    Da kommt eine alte Frau angetrippelt und setzt sich neben ihn. In einer Hand einen Stock, in der anderen eine kleine Tasche, offensichtlich auch schon aus den zwanziger Jahren. Komisch, Menschen, die einer Minderheit angehören, kommen einander meist näher. Sie lächeln sich zu und reden bald ein wenig miteinander: »Guten Tag, Madame.«
    »Guten Tag, Monsieur.« Zuerst spricht man übers Wetter und übers Rheuma. Dann schweigt man wieder. Ob mit neunzig oder mit zwanzig Jahren — man erzählt nicht gleich jedem Fremden sein ganzes Leben, einfach so.
    »Auf Wiedersehen, Monsieur.«
    »Auf Wiedersehen, bis morgen vielleicht?«
    »Ja, vielleicht.«
    Am nächsten Tag sitzen sie wieder nebeneinander und reden — ein wenig gelöster. Die erste Schüchternheit ist jetzt überstanden, und der Opa erzählt von dem Schwiegersohn und dem Altenheim. Sie spricht über ihre Einsamkeit in ihrem Häuschen, wo sie alleine lebt, seitdem ihre einzige Tochter nach Amerika gegangen ist. Die schreibt nur einmal im Jahr, vor Weihnachten, und ihre Enkelkinder kennt sie nur von Fotos.
    »Aber man darf sich nicht beklagen«, meint sie ohne Bitterkeit, »so ist es nun mal, wenn man alt ist. Man muß sich einfach damit abfinden!«
    »Warum eigentlich? Ich habe eine Idee. Sehen wir uns morgen wieder?«
    »Aber ja, ich... ich freue mich ja schon jeden Tag darauf.«
    Es dauert aber noch eine ganze Woche, bis der Opa mit seiner Idee endlich herausrückt... Leidenschaftlich, fast wie in seinen besten Jahren, setzt er zu einer gewichtigen Rede an:
    »Wissen Sie was, meine Rente und Ihre dazu — und wir verstehen uns doch ganz gut, und ich sehe einfach nicht ein, daß ich auf einmal abgeschoben werden und einsam leben soll, nur weil ich alt bin! Und Sie sollten auch nicht so alleine bleiben. Wer hat schon das Recht, uns daran zu hindern, so zu leben, wie wir mochten, wie wir könnten? Wir zeigen es allen! Wir ziehen einfach zusammen!«
    Die alte Dame lächelt. Mit 87 Jahren verliebt man sich vielleicht nicht mehr, aber man spürt die geringste Zärtlichkeit wie ein Geschenk des Himmels. Gewiß, die große Liebe hat man hinter sich, aber für eine Freundschaft ist es niemals zu spät... Sie errötet leicht. Denkt an ihre zwei Katzen, an die Rosen vor ihrem Häuschen, an den Zaun ringsherum, der mit den Jahren auch immer gebrechlicher wurde. Soll sie es wagen? Ihr ist auf einmal auch eine Idee gekommen... aber nein, lieber nicht. Der lacht mich bestimmt nur aus. Na, und wenn schon!
    »Monsieur Careux... vielleicht... ich meine... bitte schauen Sie mich nicht so an, sonst traue ich mich nicht!«
    »Sagen Sie schon! Woran denken Sie?«
    «Ich... ich meine, wir könnten auch... heiraten!«
    Jetzt ist es heraus. Und gleich sprudelt sie weiter: »Es wäre so schön. Dann wüßte ich auch, daß das Häuschen nicht verkauft wird, falls ich vor Ihnen sterbe. Sie würden es weiter pflegen und darin wohnen. Es wären dann Ihr Haus und Ihre Rosen. Und auch die Katzen — die eine ist noch ganz klein —, sie würden bei Ihnen bleiben. Und der Zaun, den können Sie wieder neu streichen. Ich kann noch gut kochen, und...«
    Und die Hochzeit fand am 10. Juli 1964 statt. Um 9 Uhr beim Standesamt, um 11 Uhr in der Kirche an dem kleinen Platz mit den Bäumen und der Rank. Sie — 87 Jahre und weiße Haare — trug ein altrosa Kleid. Er — 92 Jahre mit einem Strohhut wie Maurice Chevalier — trug einen dunkelblauen Anzug. Es war eine ganz private Zeremonie. Die Familien wurden nicht
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