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Der Mann der nicht zu hängen war

Der Mann der nicht zu hängen war

Titel: Der Mann der nicht zu hängen war
Autoren: Pierre Bellemare
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der Richter und der Oberaufseher betreten die Zelle des zum Tode verurteilten John Lee und wecken ihn. Erst vor kurzem ist der Geistliche mit diesem Amt betraut worden. Und heute wird es seine erste Hinrichtung sein. Ihm graut — und das kann man ihm gut nachfühlen. Gestern war der Galgen im Gefängnishof errichtet worden, direkt gegenüber der Kapelle — und jeder Hammerschlag war ihm durch Mark und Bein gegangen. Die vierzig Jahre Seelsorge in Sussex haben ihn doch sehr geprägt, und sein empfindsames Gemüt lehnt sich nun einmal auf bei dem Gedanken, bei solch einem — »Spektakel« mitwirken zu müssen. Aber das ist jetzt seine Aufgabe: da zu sein, wenn jemand stirbt — oder getötet wird. Dabei zu sein, wenn auch John Lee stirbt. Da zu sein und für seine Seele zu beten.
    Zu seiner großen Überraschung empfängt der Verurteilte die drei Männer mit einem breiten Grinsen: »Na, ist es endlich soweit? Hat meine letzte Stunde geschlagen? Bitte sehr, meine Herren, nach Ihnen!«
    Der Geistliche fragt ihn, ob er vorher noch beichten möchte.
    »Wozu? Wir sehen uns bestimmt bald wieder!«
    Die vier Männer marschieren also zum Galgen, wo Mister Berry, der Scharfrichter, dem Verurteilten die Hände auf dem Rücken fesselt. Der Pfarrer murmelt seine Gebete, steigt die Stufen hoch und stellt sich auf den Platz, der dort für ihn vorgesehen ist.
    »Möchten Sie noch etwas sagen?« fragt der Richter den Verurteilten.
    Mit fester Stimme antwortet John Lee: »Nein. Nichts.« Dann geht alles sehr schnell: Der Henker stülpt die weiße Kapuze über den Kopf des Delinquenten, legt ihm die Schlinge um den Hals, tritt einen Schritt zurück und gibt seinem Gehilfen das Zeichen. Der Geistliche schließt die Augen und betet nun etwas lauter. Der Gehilfe zieht die Schnur am Riegel — doch die Fallklape geht nicht auf.
    Ein paar Sekunden lang herrscht eisige Stille. Der Henker faßt sich als erster und gibt dem Gehilfen abermals ein Zeichen. John Lee wird von Strick und Kapuze befreit. Er ist blaß, aber — ja, er wirkt fast amüsiert! »Hallo, da bin ich wieder!« Und zum Pfarrer, der mit weichen Knien neben ihm steht, bemerkt er nur: »Ich hab’s Ihnen ja gesagt, daß wir uns bald wiedersehen!« Auf dem Galgengerüst ist es sehr eng. Der Geistliche und der Verurteilte werden aufgefordert, herabzusteigen. Die Mechanik muß überprüft werden. Der Henker und sein Gehilfe machen sich an die Arbeit. Doch alles funktioniert — bei Zug verschiebt sich der Riegel ganz normal, und die Falltür klappt mit einem dumpfen Schlag nach unten.
    Mister Berry, der Henker, entschuldigt sich: »Es tut mir wirklich leid... aber... aber wir müssen es nochmal machen.«
    »Machen Sie nur! Tun Sie Ihre Arbeit!« John Lee wirkt ganz lässig.
    Die weiße Kapuze wird ihm erneut übergestülpt, die
    Schlinge um den Hals gelegt. Der Pfarrer schließt die Augen und murmelt wieder seine Gebete. Der Henker gibt das Zeichen. Der Gehilfe zieht an der Schnur. Der Riegel verschiebt sich und die Fallklappe — klemmt schon wieder!
    Jetzt reicht es! Der Richter durchbohrt den Henker mit wütenden Blicken. Der Riegel wird wieder zurückgeschoben, Schlinge und Kapuze wieder abgenommen.
    »Führen Sie den Verurteilten in seine Zelle!«
    Während John Lee von den Wärtern abgeführt wird, begibt sich der Geistliche in seine Kapelle und bittet Gott, er möge die Herzen der Menschen doch bewegen, daß sie den armen Mann begnadigen, der zweimal Todesangst ausstehen mußte.
    Unterdessen arbeitet der Henker fieberhaft. Der Mechanismus wird erprobt und abermals erprobt. Alles funktioniert einwandfrei: Der Riegel verschiebt sich, und die Klappe fällt jedesmal nach unten. Mr. Berry stellt sich sogar selbst auf die Fallklappe, packt den Strang fest mit beiden Händen und befiehlt: »Jetzt! Zieh an der Schnur!«
    Sofort klappt die Falltür, und der Henker schaukelt einige Sekunden lang am Strang. Dann läßt er sich unter den Bretterboden fallen: »Es ist wirklich alles in Ordnung. Sie haben’s doch gerade selbst gesehen.«
    »Also gut«, sagt der Richter, »auf ein Neues!«
    Und wieder verläßt John Lee seine Todeszelle. Doch erweckt er den Eindruck, als ginge ihn das Ganze gar nichts an. Der bedauernswerte Geistliche wird benachrichtigt, daß die Hinrichtung nunmehr stattfinden kann. Er versucht einzuwenden, daß unter diesen Umständen... in Anbetracht des eindeutigen Zeichens... der zweimaligen Offenbarung des göttlichen Willens... Man könnte doch die Strafe
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