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Der Mann der nicht zu hängen war

Der Mann der nicht zu hängen war

Titel: Der Mann der nicht zu hängen war
Autoren: Pierre Bellemare
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aussetzen!
    Doch der Richter besteht unerschütterlich darauf, daß jeder Beteiligte seinen Platz wieder einnimmt. Die göttliche Gerechtigkeit in Ehren, aber die irdische Gerechtigkeit muß ihren Lauf nehmen. John Lee hat gemordet — er muß also sterben!
    Die außergewöhnlichen Umstände dieser technisch so schwierigen Hinrichtung verbreiten sich im Gefängnis wie ein Lauffeuer. Jetzt drängen alle Häftlinge an die vergittertem Fenster und starren auf den Mann, der mit seinem Seelsorger und seinem Henker nun bereits zum dritten Mal unter den Galgen tritt. Jeder steht also wieder auf seinem vorgesehenen Platz.
    Bevor Mr. Berry John Lee erneut die Kapuze überstülpt, meint er noch: »Tut mir leid, alter Junge, aber diesmal wird’s ernst.«
    »Meinst du?« bemerkt der Verurteilte — wieder mit seinem herausfordernden breiten Grinsen.
    Nun, der hat vielleicht die Ruhe weg, denkt der Henker für sich, und mit gemischten Gefühlen zieht er ihm abermals die Kapuze über den Kopf, legt ihm die Schlinge um den Hals, prüft den Knoten und tritt zwei Schritte zurück. Zum dritten Mal murmelt der Geistliche in seiner Ecke die obligatorischen Gebete und schließt die Augen.
    Totenstille. Da erhebt sich auf einmal eine Stimme: Sie singt ein altes englisches Lied — eine gedämpfte Stimme, dennoch ruhig und kräftig: John Lee, jetzt singt er auch noch unter seiner Kapuze!
    Überrascht und etwas hilflos schaut der Henker den Richter an. So etwas erlebt er wirklich zum ersten Mal. Könnte man nicht...?
    Aber der Richter wird schon ungeduldig. »Worauf warten Sie denn noch, Mr. Berry?«
    Warum um Himmels willen gibt er das Zeichen nicht? Der Richter nickt energisch, und der Henker gibt schließlich den Befehl weiter. Der Gehilfe zieht an der Schnur, der Riegel gleitet hörbar zurück — nur die Fallklappe bewegt sich wieder nicht.
    Ein Aufschrei der Freude schallt durch den Gefängnishof. Die Häftlinge johlen vor Begeisterung, lobend vor Zorn wirft der Richter seine Perücke zu Boden und tritt sie mit den Füßen: »Man führe den Verurteilten in seine Zelle... und schicke mir den Idioten von Tischler, der dieses Schafott gebaut hat!«
    Unter dem Beifallsgejohle seiner Mitgefangenen verläßt John Lee den Hof wie ein Torero seine Arena, und nach allen Seiten grüßend, begibt er sich gemächlich in seine Zelle.
    Der Geistliche wendet sich an den Richter, wird aber sofort unterbrochen: »Kümmern Sie sich gefälligst nicht um Dinge, die Sie nichts angehen!«
    Der Tischler heißt Frank Ross. Ein Gefangener, der ursprünglich auch zum Tode verurteilt, dessen Strafe aber in lebenslängliche Haft umgewandelt worden war. Mit unschuldiger Miene steht er vor dem Richter: »Hast du etwa dieses Mistding gebaut?«
    Das ist nicht zu leugnen. Vor vierzehn Tagen hat ihn die Verwaltung damit beauftragt, das Galgengerüst nach herkömmlichem Muster anzufertigen.
    »Und warum funktioniert das Ding dann nicht, wenn ich fragen darf!?«
    Frank Ross zuckt die Achseln. Er weiß es nicht... keine Ahnung... vielleicht hat durch den Regen, nachts, das Holz gearbeitet.
    »Dann hoble die Falltür gefälligst ab!«
    Zum Gaudium der Häftlinge, die an den Zellenfenstern kleben, überwacht der Richter jetzt selbst die Überarbeitung der Klappe. Dreimal nimmt er dann selbst den Platz des Verurteilten ein, so wie es vorher Mr. Berry getan hatte. Dreimal läßt er den Riegel öffnen, dreimal schaukelt er am Strang, den er mit beiden Händen hält. Es funktioniert jedesmal!
    »Na, wer sagt's denn! Es ist alles in Ordnung. Also los, wir müssen zu einem Ende kommen!«
    Unter stürmischem Gejubel der Häftlinge tritt John Lee zum vierten Mal unter den Galgen. Zum vierten Mal — und diesmal mit zitternden Händen — zieht ihm Mister Berry Kapuze und Schlinge über den Kopf, zum vierten Mal schließt der Kaplan die Augen und betet zum Himmel, das Wunder möge vielleicht doch noch einmal geschehen. Wieder senkt sich Totenstille über den Hof.
    Da dem armen Henker alle Glieder schlottern, gibt der Richter diesmal selbst dem Gehilfen das Zeichen. Der zieht nun zum vierten Mal an der Schnur und — zum vierten Mal rührt sich die Fallklappe nicht!
    »Das darf doch nicht wahr sein!«
    Ungeheurer Beifall braust los — die Häftlinge toben. Totenblaß, mit gesenktem Haupt, verläßt der Richter den Hof. Der Geistliche kniet auf dem Gerüst und dankt Gott für das Leben von John Lee. Der kommt wieder in seine Zelle.
    Ein paar Tage später wandelt das Unterhaus sein
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