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Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Titel: Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
Autoren: Manfred Köhler
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Eishöhle.
    Die Buchstaben des Artikels tanzten vor ihren Augen. Sie begriff, dass sie weinte, und als sie es begriff, brach die Tränenflut so richtig los.
    Es war vorbei. Was immer dieser Wahnsinnige mit ihr vorhatte, sie würde nie dazu kommen, ihrer Tochter das Tagebuch zu geben und sie um Verzeihung zu bitten. Nelli hörte, wie Tränen neben ihrem Ohr auf den Holzboden tropften.
    „Na gut“, sagte Andi munter. „Ich les dir die entscheidende Passage vor. Wie gesagt, es geht um den Ersten Weltkrieg. Also: Weil es draußen an ausreichender Deckung fehlte, gruben sich die österreichischen Soldaten ins Eis hinein, bis schließlich mehr als acht Kilometer lange Stollengänge...“
    Nellis leises Weinen lenkte ihn ab. Ohne die Miene zu verziehen, versetzte er ihr eine kurze, knallende Ohrfeige.
    „Hör mir gefälligst zu! Das ist ein Schlüsselmoment, kapiert!“
    Sie spürte die Backe heiß werden. Ihre Hand fühlte sich an wie mit glühender Glaswolle ausgestopft. Sie begriff Andis Befehl, aber nichts drang wirklich zu ihr durch in ihre tiefe Verzweiflung über ihre Hilflosigkeit.
    Er schüttelte pikiert den Kopf und konzentrierte sich wieder auf den Artikel.
    „Na gut, wo waren wir: ...bis schließlich mehr als acht Kilometer lange Stollengänge den Gletscher durchzogen – selbst Glaziologen waren bis dahin nicht so tief ins Innere eines Eiskolosses gedrungen. Das Stollensystem unter den Gletschern des Adamello hatte insgesamt eine Länge von 24 Kilometern.“
    Die Kilometerangabe las er mit staunender Betonung. Für einen Moment sah er versonnen vor sich hin, stand dann ruckartig auf, hängte den gerahmten Artikel zurück an die Wand und kniete sich wieder neben Nelli.
    „Und nun sag du mir, was ich gedacht habe, als ich diesen Absatz las.“
    Nelli hörte ihn sprechen und begriff seine indirekte Frage, aber es war ihr unmöglich zu antworten.
    „Ich geb dir noch nen Tipp: Kennst du den Film Flucht ins 23. Jahrhundert? Den Roboter Vox?“
    Nelli ließ die Frage in sich nachklingen und dachte an ein Museum, das sie in Kanada besichtigt hatte. Neben einem ausgestopften Elch war ein Schild angebracht gewesen, dessen Text sie damals sehr berührt hatte: Auch für die Stärksten und Schlauesten kommt irgendwann der letzte Morgen.
    „Bisschen schwer von Begriff“, murmelte Andi. „Na, ich geb dir noch ein paar Sekunden, du kommst schon noch drauf.“
    Nun hatte sie selbst also ihren letzten Morgen hinter sich. Der Tag hatte mit einem Sturz begonnen und sich von da an stetig verschlimmert. Den Sonnenaufgang vor dem Sturz hatte sie kaum zur Kenntnis genommen – sie meinte ja noch so viele vor sich zu haben. Doch nun stand fest: Den Sonnenaufgang in zwei, drei Stunden würde sie nicht mehr erleben. Der Gedanke daran ließ ihre Tränen stärker fließen. Sie hatte sie geliebt, die Sonnenaufgänge, die ersten Pedaltritte hinein in den unbekannten Tag, die frische Morgenluft. Ihre totale Freiheit. In den letzten sieben Jahren hatte sie tun und lassen können was sie wollte.
    Andi starrte auf den Schwall Tränen, in dem ihre Augen schwammen. Er machte ein lautes „Ts!“ und schüttelte den Kopf.
    „Du alte Heulsuse. Jetzt muss ich improvisieren.“
    Er stand auf, packte sie an ihrer Verschnürung und zerrte sie mit einer derart ruckartigen Leichtigkeit hoch, dass Nelli augenblicklich wieder schlecht wurde. Die Fesseln schnürten ihr die Luft ab.
    „Kannst du stehen? Na, wahrscheinlich eher nicht.“
    Er lehnte sie mit dem Hinterteil an den Schreibtisch, hielt mit einer Hand die Fesseln im Brustbereich gepackt und stabilisierte ihren Oberkörper damit, während er mit der anderen Hand in ihre Hosentasche fuhr. Er zerrte seinen Schlüsselbund heraus und klimperte damit grinsend vor ihrem Gesicht herum.
    „Jetzt unternehmen wir eine kleine Spritztour.“
    Er machte eine Art Verbeugung vor ihr, drückte ihr die linke Schulter in den Bauch, packte sie um die Kniegelenke, hob sie an und warf sie sich über die linke Schulter. Im Vornüberkippen schrammte Nellis Stirn nur Millimeter an der rissigen Steinwand des Zimmers vorbei, und da hing sie auch schon mit dem Kopf nach unten in der Luft. Die Übelkeit verstärkte sich.
    „Dein Zeug schaff ich nicht auch noch“, murmelte er mehr zu sich selbst. „Muss ich halt noch mal gehen. Muss ich sowieso.“
    Er drehte sich um, und wieder sah Nelli etwas auf sich zurasen, den Schreibtisch diesmal, aber wieder sauste ihr Kopf um Haaresbreite an dem Hindernis vorbei. Sie
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