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Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Titel: Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
Autoren: Manfred Köhler
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Luft über dem Stei nbrecher. Der Vorrat an Steinen, der noch im Trichter gesteckt hatte, war durchgelaufen. Das Rohr war aus meiner Hand direkt in den Schlund der mahlenden Maschinerie gefallen und wurde wie ein Strohhalm darin aufgesogen und knirschend zermalmt.
    Ich richtete den Blick nach oben. Honkes hatte sich über das G eländer gelehnt und schaute mir in die Augen. Seine Wut schien verraucht, aber bei Sinnen war er nicht. Er stand da und wollte beobachten, wie mir die Kraft ausgehen würde, wie meine um die Kante der Plattform verkrampften Finger nachgeben, wie ich abgleiten, abstürzen und bei lebendigem Leib durch diesen gigantischen Fleischwolf gedreht werden würde.
    Ich kann nicht beschreiben, was in diesen Sekunden in mir vo rging, aber Angst hatte ich nicht. Um zu überleben, gab es nur eine Möglichkeit, ich musste mich hochziehen, aber hochziehen ging nur mit einer zweiten Hand, die ich nicht hatte, was mir in dieser Situation nicht mehr klar war. Mein rechter Arm zuckte nach oben, um Halt zu finden, aber weil da keine rechte Hand mehr war, schlug der Stumpf des Unterarms wirkungslos gegen die Eisenkante der Plattform und rutschte ab.
    In meinem auf Überleben gescha lteten Gehirn kam die Rückmeldung eines Nichtzugreifens mangels Hand nicht an. Die Bewegung wurde wiederholt, denn es gab keine andere mögliche Bewegung zur Rettung meines Lebens. Wieder zuckte mein rechter Arm nach oben, und wieder schlug der Stumpf gegen die Kante und glitt ab.
    Wie ein Automat wiederholte mein Körper di esen Bewegungsablauf. Ich sah meine Haut am Knochenstumpf rot und schließlich blutig werden, aufplatzen und das Metall färben, aber ich spürte keinen Schmerz, auch nicht in der verkrampften linken Hand. Ich sah den über mich gebeugten Honkes, seine Augen fest und ausdruckslos auf meine Augen gerichtet, und hörte unter mir das schabende Mahlen und metallene Rattern des leer laufenden Steinbrechers. Kein Halt rechts, immer weniger Kraft, wieder kein Halt rechts, wieder wieder wieder nichts.
    Rechts von mir knallte es. Ich kannte diese Art von Knall, aber war so auf meine leer laufende Bewegung eingestellt, dass ich ke ine Schlüsse daraus zog. Rogalla hatte die Pistole ausgegraben und geschossen, aber ich musste weiter machen, sonst wäre ich tot. Honkes über mir lehnte nicht länger, sondern hing jetzt am Geländer. Er klammerte sich fest und schaute mir in die Augen. Wir erkannten uns als Sterbende.
    Mein Stumpf schlug gegen etwas, das sich anders anfühlte als M etall, weicher, weniger glatt. Der linke Fuß von Honkes war über die Kante der Plattform gerutscht und stand schräg über. Sein Körper ging am Geländer wie der eines Boxers in den Seilen. Er klammerte sich mit beiden Armen fest, aber sein Unterkörper war ihm außer Kontrolle geraten und zuckte. Die Kugel musste ihn ins Rückgrat getroffen haben. Es kam mir nicht in den Sinn, diese Wendung auszunutzen. Weiterhin schlug ich instinktiv mit dem rechten Arm nach oben, um Halt zu finden mit einer Hand, die nicht vorhanden war.
    Plötzlich fand ich Halt. Mit meiner Armbeuge klammerte ich mich wie mit einem Haken um das herabhängende Bein von Honkes. Für e ine Sekunde verlagerte ich einen großen Teil meines Gewichtes auf diese rechte Seite und bekam ein bisschen Spielraum für die linke Hand, von der Kante ein paar Zentimeter höher mit den Fingern in die Wabenstruktur des Standgitters zu fassen. Mit dem Griff verdrehte sich mein Handgelenk, es tat scheußlich weh, aber ich konnte das aushalten für die Sekunde, die ich brauchte, um an Honkes Bein mit dem Griff meiner Armklammer vom Unterschenkel auf den Oberschenkel nachzufassen.
    Honkes war abgerutscht und hing mit ausgestreckten Armen am G eländer und mit dem Unterkörper über der Kante der Plattform. Ich fand an seinem Oberschenkel für einen Augenblick festen Halt, und der Augenblick reichte mir, um mit der linken Hand so weit über die Kante zu greifen, dass ich nun in der Lage war, mich auf den Ellenbogen aufzustützen.
    Honkes war mit der rechten Hand abg eglitten. Wie gelähmt hing sie an ihm herunter, und die Fingerspitzen der linken Hand, mit denen er noch am Geländer krallte, rutschten im Zeitlupentempo ab. Im gleichen Moment, in dem ich mich über die Kante auf die Plattform zurückzog, fiel er, ohne noch ein Wort gesagt zu haben.
    Er fiel kurz und hart, schrie gurgelnd auf, und durch die Wabe nstruktur des Gitters sah ich ihn im Schlund des Steinbrechers verschwinden. Das metallene
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