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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter
Autoren: weissbooks
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Aufenthalt; daran könne nicht einmal der liebe Gott etwas ändern, behauptete der Franzose. »Euer lieber Gott!«, hatte er gesagt.
    Aber das war noch nicht alles, denn an jenem Freitagabend geschahen in Dolina Ró ż noch andere merkwürdige Dinge. Auch Schtschurek hatte sich einen Einbruch geleistet, der für ihn jedoch ein schlimmes Ende nahm. Er war in einen Keller der Plattenbausiedlung an der Luna eingedrungen, um einen mit Sprit vollgefüllten Kanister zu stehlen. Dabei wurde er erwischt und zusammengeschlagen. Der Kellerbesitzer, der Schtschurek bestens kannte, hatte mit dem Dieb kein Erbarmen gehabt. Schtschurek erlitt Knochenbrüche, Platz- und Risswunden und musste ambulant behandelt werden. Die Miliz verhängte über Barteks größten Feind Hausarrest – fliehen konnte er sowieso nicht. Er lag nun zu Hause im Bett, und Bartek hatte seinen ganzen Mut zusammengenommen und ihn am Nachmittag besucht, weil ihm eine Frage nicht aus dem Kopf gehen wollte: Wozu brauchte der Sohn des Totengräbers Benzin?
    Schtschurek staunte sichtlich − er bekam nie Besuch, und selbst seine Eltern mussten staunen −, als Bartek bei ihnen zu Hause hereingeplatzt kam. Das Schusterkind hatte erwartet, dass ihn Schtschurek auf der Stelle verjagen würde (»Verpiss dich, du Hurenkind!«), doch sein größter Feind, der im Gesicht Risswunden hatte und dessen rechte Hand in Gips steckte, brach stattdessen in Tränen aus und sagte, er hätte nie und nimmer damit gerechnet, dass sich irgendjemand aus dem Städtchen nach seinem Zustand würde erkundigen wollen, schon gar nicht einer seiner Feinde, eines seiner beliebtesten Opfer, und überhaupt, Marcin sei schuld an allem, er hätte ihm den Auftrag gegeben – für viel Geld −, nach Monte Cassinos Leichenschmaus in der Nacht zum Sonntag die Schusterwerkstatt anzuzünden, und das sei schon der zweite Auftrag gewesen. »Du warst es also, der auch die Molotowcocktails geworfen hat?«, fragte ihn Bartek anschließend. − »Ja, ja, ja!«, antwortete Schtschurek, der auch verriet, wo er Marcins Geld für die beiden Aufträge versteckt hatte. »Du kannst es haben!«, meinte er. − »Ich will’s nicht! Diese Knete ist schmutzig!« Und das Schusterkind war froh, das gut gemeinte Angebot abgelehnt zu haben. »Können wir wenigstens Frieden schließen?«, fragte zum Schluss sein größter Feind. − »Das muss ich mir noch überlegen …«
    Der Besuch bei Schtschurek hatte sich als Volltreffer erwiesen: Bartek fühlte sich nun darin bestätigt, dass er alles richtig machte und dass ihm nichts mehr aus dem Ruder laufen konnte. Und nun ging er zu seinem Freund auch deshalb, weil er Anton von Marcins Verrat berichten und mit ihm über mögliche Konsequenzen für Marcin, den Aristokraten des Denkens und Handelns, beraten wollte.
    »Schusterkinder aller Länder, vereinigt euch!«, sprach er mit sich selbst. »Unsere Verräter, unsere Aristokraten und Denker, unsere Mitschüler, unsere Lehrer für Metallurgie und für Technisches Zeichnen, unsere Polnischlehrerinnen, unsere Dichter und auch unsere Eltern und Verwandten führen uns ständig an der Nase herum! Damit muss endlich Schluss sein! Wir sind keine Feiglinge und Duckmäuser, keine Schreiberlinge und Nichtsnutze! Wir sind die Schusterkinder, die in Wirklichkeit nicht wissen, was ihnen der Tag bringen wird und wo sie speisen, trinken und übernachten werden! Und wo es brennt – das sind wir! Und jetzt brennen die Bahnhöfe und Züge! Im ganzen Land brennen die Züge und Bahnhöfe!«
    Er war glücklich: Morgen würde er zum ersten Mal in seinem Leben auf eine große Reise gehen und Dolina Ró ż womöglich für eine lange Zeit verlassen! Er war noch nie in Gda ń sk gewesen, noch nie, denn die größte Stadt, die er je gesehen hatte, war Olsztyn, und in Olsztyn gab es vielleicht mehr ehemalige Wehrmachtskasernen, mehr Friedhöfe und Krankenhäuser, mehr Schul- und Parteigebäude, mehr Schusterwerkstätten und Fabriken, mehr Kirchen und Plattenbauquartiere als in Dolina Ró ż , doch das war es auch schon. Selbst der Bahnhof von Olsztyn, den der Franzose am liebsten als Missgeburt der sozialistischen Architektur der Volksrepublik Polen bezeichnete, zog im Vergleich mit der alten ostpreußischen Station von Dolina Ró ż den Kürzeren. Das war nun aber Bartek egal, da jetzt beide Bahnhöfe brannten, in seinem Reisefieber brannten …
    Barteks Fluchtplan war einfach und dann doch nicht so einfach, obwohl er eigentlich einfach war. Er wollte den
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