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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter
Autoren: weissbooks
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Franzosen bei dessen Bruder Jan in Gda ń sk überraschen. Er hatte die Adresse aus Stasias Adressbuch abgeschrieben, und er konnte sich nicht vorstellen, dass ihn der Bruder von Opa Franzose vor die Tür setzen würde.
    Opa Franzose verbrachte seinen letzten Abend zusammen mit Barteks Eltern, bei denen er auch übernachten wollte. Stasia und Krzysiek würden den Eisenbahner am nächsten Morgen mit dem Taxi zum Bahnhof bringen. Sein Zug fuhr kurz nach acht. Bartek hatte sich von Opa Franzose anständig verabschiedet und den Eltern erzählt, er hätte eine Verabredung mit Anton und würde auch bei ihm über Nacht bleiben. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Der Zug nach Korsze, dem nur wenige Kilometer entfernten Nachbarstädtchen und wichtigsten Eisenbahnknotenpunkt des Lunatals, wo der Franzose umsteigen musste, bestand nur aus zwei Waggons der 2 . Klasse, und diese wurden schon am Abend zuvor am Bahnsteig bereitgestellt, denn Dolina Ró ż war der letzte Bahnhof vor der Grenze zu Russland. Die Waggons luden früh zum Einsteigen ein!
    Er ging zu Anton, aber er ging auch gleichzeitig zum Bahnhof. Seine Beine trugen ihn zu Anton, in Gedanken ging er jedoch zum Bahnhof, der brannte, und wie er da so glücklich und in seinem Reisefieber zum Bahnhof ging, wo auf den Gleisen die beiden Waggons auf ihn warteten, dachte er, dass er bald, in wenigen Stunden bereits, in einem der dunklen Waggonabteile sitzen und aus dem Fenster schauen würde. Und dann dachte er, dass genau hier, an diesem Punkt, sein Fluchtplan gefährdet war. Er durfte sich nicht von Opa Franzose erwischen lassen, der ihn in Korsze bestimmt wieder nach Hause zurückschicken würde. Aber ich werde es schaffen, dachte er, ich werde mich auf der Toilette einschließen und in Korsze als Letzter aus dem Zug steigen und als Letzter in den Zug nach Gda ń sk springen − unsichtbar für die Welt und den Franzosen: Ich werde mich unsichtbar machen wie die Klapperschlange Kurt Russel im Kino Zryw ! Schusterkinder aller Länder, vereinigt euch! Und du, Mutter, du sollst nicht traurig sein, du hast deinen Lippenstift, er wird dich beschützen und trösten! Keine Bange, ich werde eines Tages nach Dolina Ró ż zurückkommen, wie der Franzose! Ich bin Eisenbahner! Ich brenne …
    Herr Lupicki und der Hauklotz
    … und während das Schusterkind zu Anton ging (nein!, zum Bahnhof!), saß Herr Lupicki schon seit einer Weile auf dem Sofa in der Totenkammer seiner Werkstatt und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, und da ihm dieses Ordnen nicht gelingen wollte, klemmte er sich den Hauklotz zwischen die Beine und fing an, in den Hauklotz Nägel zu schlagen, einen Nagel nach dem anderen, und je härter, je wütender er mit dem Hammer die Nägel in den Hauklotz haute, desto klarer wurden seine Gedanken. Die Ärzte hatten ihm ausdrücklich gesagt, er solle zu Hause bleiben und sich ausruhen und am Montag wieder zur Kontrolle kommen. Der alte Schuster pfiff aber auf den Ratschlag der Ärzte, er hatte seinen besten Angestellten und Freund verloren, und obendrein auch noch seinen Sohn, denn sein Sohn war verloren: Der Hauklotz wusste es und auch der Hammer, der in Herrn Lupickis Hand den Takt seiner Wut trommelte, dass Norbert endgültig verloren war. Von seiner Tochter war nichts zu erwarten. Mariola machte schon seit langem nur noch, was sie für richtig hielt, außerdem war sie genauso verrückt wie ihre krummbeinige Mutter. Im Prinzip war Mariola auch verloren – verloren an die vielen, vielen Männer, die sie begehrten. Und während das Schusterkind zu Anton ging, schlug Herr Lupicki die Nägel in den Hauklotz, einen nach dem anderen, ohne Unterbrechung, und seine Gedanken wurden so klar und leicht, dass er mit diesem sinnlosen Hämmern nicht mehr aufhören konnte. Er schlug auf den Hauklotz ein und begriff plötzlich, gegen wen sich seine Wut richtete.
    »Der Franzose«, brüllte er. »Der Franzose! Es ist der verdammte Franzose, der an all dem Schlammassel schuld ist! Warum ist er bloß zu uns zurückgekommen? Warum? Der Franzose, der verdammte Franzose!«
    Herr Lupicki brüllte und hämmerte weiter, weil ihm das Hämmern im Kopf Klarheit verschaffte, obwohl er sich gleichzeitig vor dieser Klarheit ein wenig fürchtete, denn er dachte, dass es für alle in Dolina Ró ż besser gewesen wäre, der Franzose hätte niemals das Licht der Welt erblickt, niemals.
    »Franzose!«, brüllte er. »Franzose, überall musst du dein Gift verteilen – das Gift eines Eisenbahners und
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