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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter
Autoren: weissbooks
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Menschen wie Monte Cassino wäre unser Land nicht zu dem geworden, was es heute ist: ein friedliches freies Polen …« Er sprach lange, klarsichtig und mit Nachdruck, die Kanzel schenkte ihm diese ungeheure Macht der Sprache, weil die Kanzel ihre gottestreuen Redner liebte, und der junge Pfarrer sprach über Monte Cassinos schwere und nützliche Arbeit in der Schusterwerkstatt und über seine Frau, die als Einheimische mühselig Polnisch gelernt hätte, und er sprach auch über das grausame Los der Repatrianten, das Monte Cassino mit dem Franzosen und Herrn Lupicki geteilt hätte. Er sprach über Krzysiek und über das Schusterkind, und das war das erste Mal, dass Gott in aller Öffentlichkeit über das Schusterkind sprach – von der Kanzel! Der Pfarrer erwähnte jedoch mit keinem Wort Monte Cassinos Kriegsjahre bei der Wehrmacht, was Micha ł Kronek zum Naserümpfen und lauten Räuspern veranlasste.
    Nach der Totenmesse setzte sich der Trauerzug wieder in Bewegung durch die Straßen von Dolina Ró ż ; er wurde mal von Herrn Lupicki angeführt – sein Angestellter war gestorben, ein Arbeiter und Soldat einer besiegten Armee −, mal von Pfarrer J ę drusik, der das Prozessionskreuz mit beiden Händen hielt. Eine solche Ellenbogenrangelei an der Spitze eines Trauerzugs hatte ihr Städtchen noch nie erlebt. Oma Hilde meinte: »Mir zuliebe, zumal ich auf meinen Gottesdienst verzichtet habe, sollten Sie sich schnell einig werden, wer den Trauerzug anführt.« Herr Lupicki sagte zu Pfarrer J ę drusik: »Ich repariere auch Ihre Schuhe! So lassen Sie mich, Vater, beim Trauern um meinen Freund Schuster sein! Ich habe mit ihm zusammen mein halbes Leben verbracht! Und als wir uns kennen gelernt haben, waren Sie nicht einmal auf der Welt! Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde – da kann die Kirche einem wie mir nicht mehr weiterhelfen, Vater!« − »Sie, Herr Lupicki − mein Sohn −, Sie sollten lieber Ihre Kippa wieder abnehmen! Und ich bin nicht Ihr Lakai!«, ärgerte sich der Pfarrer.
    Auf dem Friedhof, als Monte Cassinos Sarg ins Grab herabgelassen worden war und der Totengräber Biurkowski sein Werk zu vollenden begonnen hatte, tauchte wie aus dem Nichts der Bucklige Norbert auf. Er schleppte auf seinem krummen Rücken einen Kartoffelsack aus Jutegewebe, der mindestens fünfzig Kilo fasste, dessen Inhalt aber ganz leicht schien. Norbert rannte den Hügel, auf dem sich Monte Cassinos Grab befand, hoch und kam auf die Trauergäste zugelaufen – auf den Sargdeckel waren schon die ersten Schollen gefallen. Herrn Lupickis Sohn nickte die ganze Zeit mit dem Kopf, lachte und rief freudig von weitem: »Cassin, Cassin, Cassin! Bein, Bein, Bein!« Die Trauergäste machten ihm Platz, und als er direkt am Grabesrand Monte Cassinos, vor Erschöpfung keuchend, zum Stehen kam, öffnete er feierlich den Kartoffelsack und ließ seinen Inhalt in die Tiefe gleiten: Auf den frischen Schollen auf dem Sargdeckel landeten zwei Menschenbeine – blutleer, regenbogenfarben, fachmännisch vom Rumpf abgetrennt, zwei rechte Beine von offenbar unterschiedlicher Länge.
    Die Trauergäste sprangen erschrocken und schreiend zur Seite, Oma Hilde fiel augenblicklich in Ohnmacht, kam aber schon nach wenigen Sekunden zu sich – dank Olcias Intervention, die ihr zwei Ohrfeigen verpasst hatte.
    Olcias Töchter, die sich weinend umarmten, wurden vom Fabrikdirektor Szutkowski von der in Angst und Schrecken versetzten Meute weggezerrt.
    Quecksilber schmiegte sich an Barteks Mantel und fragte: »Sind das die Beinprothesen von Opa Monte Cassino?«
    »Schau weg, Quecksilber, schau weg – das ist nichts für dich!«, antwortete ihm das Schusterkind. »Komm, mein Brüderchen, geh zu deiner Mama!«
    Herr Lupicki aber war in seiner Wut und Verzweiflung über die Tat seines Sohnes nicht mehr zu bremsen; er ging auf den Totengräber Biurkowski los, um ihm den Spaten aus der Hand zu reißen. Der alte Schuster brüllte, er würde Norbert umbringen, ihn wie einen Hund totschlagen, den eigenen Sohn totschlagen!
    Biurkowski ließ sich von dieser Attacke nicht beeindrucken, obwohl er wusste, über welche Muskelkraft der alte Schuster verfügte. Der Totengräber stand da wie eine Mauer, hielt seinen Spaten fest in beiden Händen, den er niemandem hergeben würde, das sagte seine ganze Entschlossenheit, während die drei blonden Schwager sich auf Herrn Lupicki stürzten, um ihn zu Boden zu werfen und zu überwältigen, was ihnen auch mit Leichtigkeit gelang.
    Herr
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