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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter
Autoren: weissbooks
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Lupicki wehrte sich nicht: Er lag mit dem Rücken auf der Erde, seine Arme zitterten, sein Mund war weit geöffnet, und seine Augen blickten reglos in den Himmel. Aber er atmete noch, sein Brustkorb hob und senkte sich, wenn auch kaum bemerkbar, wie es der Franzose feststellte, der sein rechtes Ohr an die Brust des Schusters gelegt und nach dem Atem Herrn Lupickis gehorcht hatte. Und während alle vor Entsetzen weiterschrien und weinten, behielt Mariola einen klaren Kopf und brüllte zu Pfarrer J ę drusik herüber, er solle seine dämlichen Messdiener zu der benachbarten Molkerei schicken, damit sie einen Krankenwagen riefen. Aber die Messdiener waren längst über alle Berge, und dem jungen Pfarrer hatte es die Sprache verschlagen: Er klammerte sich an sein Prozessionskreuz, als befände er sich in Lebensgefahr, und konnte in seiner Angststarre keinen Fuß mehr vor den anderen setzen.
    Opa Franzose und der Friseur Tschossnek machten sich stattdessen sofort auf den Weg, um die Miliz zu benachrichtigen. Und da begriff der Bucklige Norbert allmählich, dass er etwas Falsches getan haben musste. Er hockte sich neben seinen Vater hin und sagte: »Cassin nicht tot – er braucht Bein, Bein, Bein für Himmel!« Doch Herr Lupicki reagierte nicht auf die Worte seines Sohnes. Er lag im Schnee und zitterte am ganzen Körper. Er reagierte auch dann nicht, als Barteks Vater den Buckligen Norbert an den Haaren packte und ihn derb beschimpfend von Herrn Lupicki wegschleifte: »Du Drecksack! Du Aas! Du Drecksack!«
    Da wurde dem Schusterkind klar, dass es Norbert nie wieder in Freiheit sehen und dass in Dolina Ró ż nie mehr Frieden herrschen würde. Der Franzose war an allem schuld, der Franzose, dachte Bartek, obwohl er wusste, dass das dumme Gedanken waren − aber irgendjemand musste schuld sein. Der Franzose war schuld! Der Franzose! Der Hale-Bopp-Komet war schuld, und auch das Olympische Feuer des Johanniter-Krankenhauses. Die Polnischlehrerinnen aus dem Mechanischen Technikum in Dolina Ró ż – sie trugen alle die Schuld: die Himmelskörper und die Menschen, dachte Bartek, der Franzose!

Kapitel 16: Die Flucht
    (Epilog für die Schusterkinder)
    »Schusterkinder aller Länder, vereinigt euch!«, sprach Bartek laut vor sich hin. Es war Samstagabend, und er ging zu seinem Freund Anton, mit dem er jedoch in ihrem geliebten poczekalnia , im Yachtclub, nicht nur ein paar Bier zu trinken und die Hitliste von Radio 3 zu hören beabsichtigte, nein, Bartek wollte Anton vor allen Dingen in seinen Fluchtplan einweihen, zumal er das wenige Geld, das er besaß, für eine Bahnfahrkarte nach Gda ń sk ausgegeben hatte. Bartek hatte beschlossen, seinem Opa Franzose nach Gda ń sk zu folgen, und er hoffte, dass ihm Anton ein paar Kröten leihen würde, um das Allernotwendigste an einem fremden Ort bezahlen zu können − eine Taxifahrt zu der Wohnung des Bruders von Opa Franzose oder eine Schachtel Zigaretten, ein Brötchen und eine Pepsi-Cola und, wenn alle Stricke reißen sollten − was das Schusterkind durchaus in Betracht zog −, eine Rückfahrkarte nach Hause. Vielleicht wollte Anton sogar mit ihm zusammen durchbrennen – wer konnte das schon wissen?
    »Schusterkinder aller Länder, vereinigt Euch!«, wiederholte Bartek immer wieder laut vor sich hin. Nach der chaotischen Beerdigung von Opa Monte Cassino hatte er seinen Fluchtplan gefasst. Und aus dem Leichenschmaus bei Oma Hilde zu Hause wäre zum Schluss beinahe eine doppelte Trauerfeier geworden: Herr Lupicki hatte noch auf dem Friedhof einen leichten Herzinfarkt erlitten, musste jedoch nur eine Nacht zur Beobachtung im Johanniter-Krankenhaus verbringen. Sein Sohn war zwar von der Miliz vom Friedhofsgelände in Handschellen abgeführt und vorläufig ins städtische Gefängnis gesteckt worden − zu dem deutschen Spion aus Amerika −, der Bucklige Norbert hatte aber im Grunde nichts Böses getan. Die Miliz hatte in seinem Fall erstaunlich schnell ermittelt. Es stellte sich heraus, dass Norbert am Freitagmorgen in das Krematorium des Johanniter-Krankenhauses eingebrochen war, um zwei Menschenbeine zu stehlen. Dort fielen ihm zwei Raucherbeine, die für die Einäscherung bestimmt waren, in die Hände, und er hatte sie ganz einfach mitgenommen. Opa Franzose meinte, dass Herrn Lupickis Sohn nicht mehr nach Hause zurückkehren würde − ihm blühe eine Einweisung in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik, und zwar mit der Empfehlung für einen dauerhaften
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