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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter
Autoren: weissbooks
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Trauergäste hatten zwei Köpfe – jedem von ihnen war ein Ziegenbockkopf gewachsen, er spross den Trauernden aus der Brust, als würden sie auf der Höhe ihres Herzens einen erntereifen Kürbis in den Händen halten. Die einzige Person, die von dieser blitzartigen Entstellung ein wenig verschont wurde, war Barteks Mutter: Stasia ragten aus der Stirn zwei stumpfe, nur wenige Zentimeter hohe Hörner hervor. Der Fotograf schoss ein paar Fotos – sie würden Bartek die Beweise liefern: Er blickte erschrocken und nervös auf seine Brust und betastete sie und auch seine Stirn mit den Handflächen, doch ihm war, Glück gehabt, diese Transformation erspart geblieben. Und wo war eigentlich der Bucklige Norbert?, fragte er sich. Die Augen des buckligen Sohnes von Herrn Lupicki logen nie, seine Ohren auch nicht – nur er konnte Bartek bestätigen, ob diese grauenvollen Ziegenbockköpfe wirklich existent waren oder nicht.
    Als der Pfarrer J ę drusik mit den Gebeten begann, hörte Bartek hinter seinem Rücken eine süße Stimme, die er schon seit langem vermisste; Meryl flüsterte ihm ins Ohr: »Ich bin gekommen, weil ich dich in dieser schweren Stunde nicht allein lassen konnte. Ein letztes Mal will ich dich unterstützen … Aber ich bleibe nicht lange, ich habe viel zu tun, ich drehe einen neuen Film!« Bartek war außer sich vor Freude, sein Herz lachte, seine Brust lachte, sein geliebtes Mädchen lachte mit, und dann, nachdem der junge Pfarrer die Gebete gesprochen, den Leichnam gesegnet und das Aspergillwasser gänzlich verspritzt hatte, stellten sich die litauischen Sänger vor den katholischen Altar, den Oma Olcia neben dem aufgebahrten Sarg errichtet hatte: Auf einem mit einem weißen Tuch bedeckten runden Tisch, an dem man normalerweise Bridge oder Poker spielte, standen vier Kerzenleuchter, ein Kreuz und ein Bild mit der Gesegneten Jungfrau Maria. Die litauischen Sänger, gekleidet wie Musiker eines Symphonieorchesters, stimmten ein Trauerlied an, zunächst ganz leise, aus Respekt vor dem Toten, aus Respekt vor der Witwe und vor allem aus Ehrfurcht vor dem provisorischen Altar und der Kirche in Rom, und sie sangen im Falsett eine ganze Weile so leise und respektvoll, dass selbst Herr Lupicki − er nahm sogar seine Kippa ab – die Tränen nicht mehr unterdrücken konnte. Bartek musste sich zwingen, ruhig zu bleiben, er hätte am liebsten mitgesungen, denn das Trauerlied gefiel ihm sehr, und dann sangen die litauischen Sänger immer lauter und lauter, und ihre Ziegenbockköpfe, die ihnen aus der Brust gewachsen waren, sangen auf einmal mit tiefen Stimmen mit. Sie sangen nun schon zu sechst, diese litauischen Sänger, wie ein richtiger Chor, und es war kein geistlicher, ja, kein kirchlicher Gesang, sangen da doch drei Heiden und drei Ziegenbockköpfe.
    Plötzlich aber brach der Gesang der litauischen Sänger ab, ohne Vorwarnung, als wäre das Trauerlied an dieser Stelle von seinem Autor nicht zu Ende geschrieben worden, und Bartek musste seine Augen wieder kurz schließen und öffnen, denn die Ziegenbockköpfe waren in dem Moment verschwunden, in dem die litauischen Sänger abrupt geendet hatten.
    Natalia Kwiatkowska klatschte Bravo, Bravo, wie bei einem Konzert, was nicht einmal den Pfarrer J ę drusik zu einer Rüge anspitzte − Micha ł Kroneks Cousins verbeugten sich, und nun, in der Stille ihrer höflichen Verbeugung, erinnerte man sich wieder an den Verstorbenen. Sein Sarg wurde mit dem Sargdeckel geschlossen, aber noch nicht vernagelt: In St.-Johann sollten die Trauergäste von Monte Cassinos Antlitz das letzte Mal Abschied nehmen.
    Opa Monte Cassinos Trauerzug setzte sich wenig später endlich in Bewegung – es schneite nicht, der Himmel ertrank allerdings in grauen Wolken, und auf den Straßen war es neblig und dämmrig. Barteks Vater und Onkel Versicherung nahmen Hilde in ihre Mitte, um sie beim Gehen zu stützen, und die Männer mussten sie auch während der Totenmesse in der St.-Johann-Kirche stützen, da sie weder sitzen noch knien wollte. »Ich gehe in den Fluss … Bringt mich in den Fluss …«, jammerte sie. Selbst als der Pfarrer J ę drusik von der Kanzel die Trauerrede für ihren Mann hielt, wurde Oma Hilde nicht still und jammerte leise vor sich hin: »In den Fluss will ich …« Und der junge Pfarrer sprach zu den Gläubigen: »Monte Cassino hat einen weiten Weg zu uns ins Lunatal zurückgelegt, um unsere Heimat zu bewirtschaften und zu bevölkern, und lasst es euch gesagt sein: ohne solche
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