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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch
Autoren: Dieter Wellershoff
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Asphalt
     des fast leeren Parkplatzes auf. In den weiß umrandeten Parktaschen senkrecht unter mir las ich die Nummern 36 und 37. In
     eine von beiden oder genau auf ihre Trennungslinie könnte sie gefallen sein. Als ich das dachte, hatte ich für den Bruchteil
     einer Sekunde den Eindruck, die weißen Zahlen flögen auf mich zu, und zurückzuckend stieß ich mich von der Brüstung ab, um
     in mein Apartment zu gehen. Später habe ich die Liegestühle hereingeholt, ohne noch einmal hinunterzuschauen. Statt dessen überblickte ich die Deichstraße, den Strand und die
     weite, grau und silbern schimmernde Wasserfläche mit den winzigen Silhouetten sich begegnender Schiffe in der Ferne. Die Szenerie
     wirkte von hier aus klarer, oder soll ich sagen wirklicher, als beim Blick durch die verschmutzte Panoramascheibe meines Wohnzimmers.
     Dies also, das Wirkliche in seiner unumstößlichen Gegenwart, hat sie wohl noch wahrgenommen, als sie das letzte und vielleicht
     auch das erste Mal den Sicherungshebel herumdrehte, mit dem sie die winddicht versenkbare Tür aus ihrer Fuge hob, und nach
     draußen trat.
    Lange Zeit habe ich mir vorgestellt, sie habe sich immer weiter über die Brüstung gebeugt, bis sie das Übergewicht bekam.
     Später habe ich erfahren, daß dies eine falsche Annahme war. Denn durch einen Zufall ist ihr Sturz in die Tiefe beobachtet
     worden. Der Zeuge war ein älterer Kurgast, der von Duhnen nach Sahlenburg gewandert war, wo er, noch auf dem sandigen Dünenweg,
     von ferne den Turm sah und im zweitobersten Stockwerk eine kleine Szene bemerkte, die nicht zu stimmen schien, aber seinen
     Herzschlag sofort hochjagte: Eine Frau saß dort mit dem Rücken zum Abgrund auf dem Geländer einer Loggia, vollkommen unbekümmert,
     wie er zu denken versuchte, leichtsinnig jedenfalls oder durch irgend etwas gesichert, was er aus der Entfernung nicht erkennen
     konnte. Er wollte es nicht wissen, eigentlich gar nicht wahrhaben. Da sah er, daß die Frau das Geländer losließ, beide Arme
     über den Kopf nach hinten riß und sich mehrfach überschlagend in die Tiefe stürzte. Er habe nicht sehen können, wie sie unten
     aufschlug, und noch einmal gedacht: Das kann nicht wahr sein.Doch dann sei er keuchend vor Entsetzen losgelaufen und habe sie als erster auf dem Parkplatz gefunden, mit zerschmettertem
     Schädel und verdrehten, gebrochenen Gliedern in einer großen Blutlache.
    Seit ich hier bin, sehe ich oft ihren Sturz, die erste Sekunde, in der sie sich überschlägt und ihr Rock sich öffnet wie eine
     im Zeitraffer aufspringende Blüte. Gleich danach sehe ich sie zerschmettert auf dem Asphalt des Parkplatzes liegen, so wie
     der Zeuge sie beschrieben hat. Ich nähere mich diesem Bild, das unversehens mein Bild geworden ist. Ihr Gesicht ist unversehrt,
     denn sie liegt auf dem Rücken. Wie festgefroren im Augenblick des Aufschlags starren mich ihre weit geöffneten Augen an, und
     mehr als alles andere sagen sie mir, daß nichts mehr zu ändern ist. Das Bild zerrinnt um so schneller, je mehr ich ihm abverlange.
     Morgen werde ich abreisen. Es war naiv, hierherzufahren, um der Wahrheit näherzukommen. Es gibt keinen Ort, wo man sie finden
     kann. Sie ist zerspalten und verborgen in den verschiedenen Köpfen.

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    3
Aus der Vorgeschichte einer Ehe
    Nie zuvor hatte sie daran gedacht zu heiraten, nicht, weil sie es ablehnte, sondern weil sie annahm, dies sei, wie das ganze
     übrige normale Leben, für sie nicht vorgesehen. Sie haderte nicht damit, sie litt nicht darunter, es war ihr nicht einmal
     deutlich bewußt. Ihr Leben hatte seit langem etwas Unfühlbares und Gleitendes angenommen. Zwar war ihr nicht alles leicht
     gemacht worden, schon gar nicht von Kindheit an. Es gab Widerstände, Einengungen, Enttäuschungen. Doch konnte sie nie wirklich
     glauben, daß sie gemeint war.
    Sie war neunundzwanzig Jahre alt, als sie heiratete, eine Studentin, die im vierzehnten Semester ohne Berufsziel und ohne
     Aussicht auf einen baldigen Abschluß Literatur und Sprachen studierte und zwischen all den jüngeren Studentinnen und Studenten,
     die mit ihr in den Seminaren saßen, ein wenig vereinsamt erschien. Sie hatte immer nebenher gearbeitet (als Kellnerin, Schreibkraft,
     Verkäuferin und in anderen Gelegenheitsjobs), denn ihre Mutter, die geschieden war und ein kleines Modegeschäft betrieb, konnte
     ihr kein Geld geben. Der Vater war zu einer anderen Frau gezogen, als sie vier Jahre alt war, und ihre Mutter hatte sie
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