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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch
Autoren: Dieter Wellershoff
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verpflichtet,
     nie mehr von ihm zu sprechen und keine Verbindung zu ihm aufzunehmen.
    Statt Geld schickte ihr die Mutter gelegentlich ein Kleid aus ihrem Laden, wenn sie glaubte, ein besonderes zu haben. Am liebsten trug sie schwarze Kleider mit schwerem Silberschmuck. Ihr sehr dichtes aschblondes Haar ließ sie offen über
     die Schultern fallen. Ihre Augen, die als empfindlich galten, versteckte sie hinter einer dunklen Sonnenbrille. Sie war schlank,
     allenfalls mittelgroß, eine zarte Person, die sich bewegte wie jemand, der in seine Gedanken versunken ist und es der unbewußten
     Erfahrung seines Körpers überläßt, sich im Raum, in der Gegenwart zurechtzufinden. Immer war sie gleichzeitig in der Gegenwart
     und außerhalb von ihr.
    Sie sah ganz anders aus als ihre Mutter, was noch deutlicher wurde, wenn man sie mit Jugendbildern ihrer Mutter verglich.
     Vermutlich sah sie ihrem Vater ähnlich, von dem es aber keine Fotos mehr gab. Ihre Angewohnheit, eine dunkle Sonnenbrille
     zu tragen, ließ den unteren Teil ihres Gesichtes wie entblößt erscheinen. Da war etwas Lauerndes, Witterndes um Mund und Nase
     herum, auch eine große Empfindsamkeit. Ihr Mund, dessen Umriß sie mit einem zarten Schattenriß zu umranden pflegte, war das
     unruhige Zentrum ihres Gesichtes. Ihr nervöses Rauchen wirkte, als beschwichtige sie ihn. Wenn sie zum ersten Mal die Sonnenbrille
     abnahm, sah man ihre ziemlich weit auseinanderstehenden Augen noch wie blicklos aus der schützenden Verschattung auftauchen
     und fühlte sich gehindert, sie unverhohlen anzusehen.
    Immer gab es Männer, die sie anziehend und reizvoll fanden. Aber sie zogen sich bald zurück, wenn sie entdeckten, wie schwierig
     sie war. Es waren verlegene Rückzüge, die sie nicht verstand, mit denen sie aber zu rechnen begann. Einer dieser flüchtigen
     Bekannten sagte ihr bei seinem wütenden Abschied, daß sie gleichgültig und frigide sei. Das verletztesie nicht. Sie sah es als einen Vorzug an, wenn es denn tatsächlich so war.
    Sie war sich nicht sicher. Es mußte etwas an ihr geben, das die Phantasien der Männer weckte. Manchmal glaubte sie, daß es
     gerade ihre Zurückhaltung, ihre Vorsicht sei. Sobald sie den fremden Blicken auswich, blieben sie an ihr haften. Sie fühlte
     sich betrachtet, abgeschätzt, und in ihr regte sich ein Bedürfnis, den fremden Vorstellungen zu entsprechen. Das wurde nur
     offensichtlicher, wenn sie es zu verbergen versuchte. Sie verstummte, senkte den Blick, und wenn sie ihn langsam wieder hob,
     stand in ihrem Gesicht ein Ausdruck wehrloser Einwilligung, als habe sie in sich keinen Grund und also auch keine Kraft gefunden,
     nein zu sagen.
     
    Doch dann verlor es sich. Sie ließ geschehen, was geschah, und nahm die Erregung der Männer aus immer größerer Entfernung
     wahr. Sobald sie spürte, wie sie sich mühten, sie mitzureißen, glitt sie weg in eine innere Leere.
    Nicht anders erging es ihr bei Auseinandersetzungen. Sie hielt immer nur kurz stand, und die Einwände, die sie vorbrachte,
     klangen von vornherein wie Vorschläge, den Streit zu beenden. Heimlich verließ sie schon die Situation und führte nur mit
     Rücksicht auf die Gefühle des anderen noch ein kurzes Scheingefecht. Sie hatte gelernt, daß man es von ihr erwartete.
    Alle Arbeiten ihrer verschiedenen Jobs erledigte sie zur Zufriedenheit ihrer Chefs. Sie war pünktlich, zuverlässig, unauffällig
     und freundlich. Man mußte ihr nicht lange erklären, was sie zu tun hatte, und nicht kontrollieren, ob sie es auch wirklich
     tat. »Ich weiß, Anja, du wirst mich nie enttäuschen«, hatte ihre Mutter gesagt.
    Ihre Schwierigkeiten begannen, wenn sie abends in ihre kleine Dachwohnung kam und sich nach einem schnell zubereiteten und
     achtlos hinuntergeschlungenen Abendessen an ihren Schreibtisch setzte, um ihre seit langem stagnierende Magisterarbeit ein
     Stück voranzubringen. Die Aufgabe war ehrgeizig formuliert. Sie wollte versuchen, in den Landschaftsmetaphern und Landschaftsszenerien
     von drei Romanautoren unterschiedliche Geistes- und Seelenlandschaften zu erkennen. Sie hatte lange Listen der Motive zusammengestellt,
     kam aber nicht weiter, weil die Bedeutungen zu unbestimmt blieben und einander dauernd überlagerten. Als sie versuchte, diese
     Schwierigkeiten in einem Vorwort zu beschreiben, schien das auf den Nachweis hinauszulaufen, daß ihre Arbeit sinnlos sei.
     Kurz hatte sie das in aller Schärfe gesehen und sich am nächsten Tag wieder in
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