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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch
Autoren: Dieter Wellershoff
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Deichstraße
     und den Strand auf das Wattenmeer, das wie im Atemzug einer ganz anderen Zeit als riesige dunkle Schlickfläche aus dem abrinnenden
     Wasser auftaucht und ebenso langsam wieder im Wasser verschwindet, wie eine erneut zugedeckte Erinnerung an etwas Dunkles
     und Wegloses. Die Verwandlung vollzieht sich zu langsam, um sie ständig zu beobachten. Man muß sich zwischendurch abwenden
     und nach einer Weile wieder hinausschauen, muß den Prozeß in Momentaufnahmen auflösen, um ihn als Ganzes erfassen zu können.
    Das ferne Glitzern am Horizont ist das zurückkehrende Wasser. Es kommt auf breiter Front in Rinnsalen und zungenförmigen Ausbuchtungen,
     überflutet die dunklen Schlickhaufen der eingegrabenen Wattwürmer, führt Federn von Seevögeln, Algenreste, leere Muschelschalen
     und Treibholz mit. Es läuft in die Priele und kehrt deren Strömung um und füllt die stehengebliebenen Lachen der letzten Flut
     zu Tümpeln und Seen auf, die allmählich zusammenwachsen. Noch sieht man einzelne Spaziergänger in der weiten Fläche. Sie haben
     sich umgewandt und waten in Gummistiefeln über den weichen Schlickboden langsam auf das Ufer zu. Hier und da bleiben sie stehen,
     bücken sich nach etwas oder schauen sich um. Aber das Wasser ist noch weit weg. Der Fahrweg für die Wattwagen, die in den
     Sommermonaten hinter dem ablaufenden Wasser her zur Insel Neuwerk fahren, ist mit salzverkrusteten Reisigbündeln markiert.
     Die weiter entfernten besenartigen Zeichen werden bald eins nach dem anderen im Wasser verschwinden, als würden sie von einem geheimnisvollen Mechanismus eingezogen. Nur
     die näheren ragen noch ein kleines Stück aus dem Wasser und markieren den unwegsam gewordenen Weg, wie ein altes, ungültig
     gewordenes Versprechen, eine trügerische Lockung.
    Ich frage mich, ob sie es auch so gesehen hat. Der Gedanke, dieser Lockung zu folgen, muß sie gestreift haben, hat sie vielleicht
     sogar hierhergeführt. Doch so ist sie nicht gestorben. Ein anderes Bild hat Macht über sie gewonnen. Sie hat sich von hier
     oben auf den Parkplatz hinuntergestürzt.
    Jetzt ist das Wasser wieder am Strand angekommen, und während seiner allmählichen Annäherung hat sich der Himmel grau bezogen.
     Es ist eine tiefhängende geschlossene Wolkendecke, unter der einige Seevögel dahinfliegen. Die meisten, die im Watt nach Nahrung
     gesucht haben, sind verschwunden. Viele versammeln sich während der Flut im Schilf und in den Buchten des kleinen verlandenden
     Sees, der wenige hundert Meter westlich von hier in einem Kiefernwald hinter den Dünen versteckt ist. Ich gehe manchmal auf
     dem Rundweg an seinem Ufer entlang und setze mich eine Weile auf eine der Bänke. Vielleicht war sie in den letzten Tagen ihres
     Lebens auch einmal hier. Oder mehrere Male. Sie kam hierher, weil es ihrer Ziellosigkeit einen Anhaltspunkt gab. Sie hat eine
     Weile hier gesessen und ist irgendwann wieder aufgestanden, um weiterzugehen, ohne einen anderen Grund als das ständige Hin-
     und Herschwappen von Unrast und Lethargie.
    Wenn ich mir vorzustellen versuche, wie sie dort auf der Bank sitzt und vor sich hinblickt, ist sie nicht viel deutlicherals ein Schatten. Ich weiß nicht, wie sie ausgesehen hat in diesen letzten Tagen ihres Lebens. Die Frau, an die ich mich erinnere,
     wirkt zerrissen, als bestünde sie aus dunklen und heller beleuchteten Teilen, die sich nicht ineinanderfügen. Und überall,
     wo ich hier herumgehe, in der Vorstellung, daß sie hier gewesen ist, hat sie mir die leere Gewißheit ihres Verschwindens hinterlassen.
    Manchmal aber, wenn ich in dem Sessel am Fenster sitze oder nebenan auf dem Bett liege, streift mich das Gefühl, sie sei anwesend.
     Es ist eine unkörperliche Heimsuchung, lautlos und unsichtbar, und es geschieht nur, wenn ich einige Zeit nicht an sie gedacht
     habe, so als habe die Abwesenheit meiner Gedanken ihr den Raum gelassen, den sie braucht. Etwas wallt in mir auf wie die Ankündigung
     von Glück. Aber ich kann es nicht herbeifordern. Das würde sie sofort vertreiben, weil ich dann denken müßte: Sie ist ja tot.
     
    Inzwischen bin ich unter dem Vorwand, die Liegestühle hereinzuholen, draußen in der Loggia gewesen. Ich trat an die Brüstung,
     faßte das braune Eisengeländer mit beiden Händen und beugte mich vor, um in die Tiefe zu blicken. Unter mir wiederholte die
     Fassade in sausender Verkürzung dreizehnmal die Öffnung der Loggia und stieß wie zusammengestaucht auf dem dunkelgrauen
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