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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch
Autoren: Dieter Wellershoff
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Einzelheiten vergraben. Es wird schon werden,
     dachte sie.
    Manchmal, wenn sie morgens in ihrer Dachkammer aufwachte, erschien es ihr unmöglich aufzustehen. Nur die Person, der ihre
     Mutter gesagt hatte: »Ich weiß, Anja, du wirst mich nie enttäuschen«, richtete sich mühsam auf.
     
    Nicht daß sie glaubte, ihre Einsamkeit könne geheilt werden. Aber sie verstand es, damit umzugehen. Als sei sie ihre eigene
     Gesellschafterin, sagte sie zu sich: »Jetzt wollen wir es uns gemütlich machen.«
    Einmal, als sie abends aus einem Vortrag kam, folgte ihr ein Mann. Sie merkte es nicht sofort, weil nach der Veranstaltung
     viele Menschen auf der Straße waren. Als die Menge sich verlief, blieben hinter ihr diese beharrlichen, dreisten Schritte.
     Sie vermied es, schneller zu gehen, um den Mann nicht herauszufordern. Aber als sie ihn hinter sichmurmeln hörte, packte sie die Angst. Das war vielleicht ein Wahnsinniger, ein Triebverbrecher, den sie auf keinen Fall zu
     dem Haus führen wollte, in dem sie wohnte. Jetzt ging sie doch schneller, ohne daß der Abstand größer wurde. Ein älteres Ehepaar
     kam ihr entgegen, das ihre Situation nicht zu bemerken schien. Mit raschen Schritten ging sie auf eine Kneipe zu, in der vielleicht
     noch Bekannte von der Uni saßen. Im Hereinkommen sah sie nur fremde Leute, und als gleich nach ihr der Mann eintrat, verschwand
     sie in die Toilette. Lange wagte sie sich nicht hervor, suchte dann vergeblich nach einem anderen Ausgang. Schließlich ging
     sie quer durch das Lokal und rannte, ohne verfolgt zu werden, bis sie außer Atem war.
    Zu ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag brachte der Postbote einen großen flachen Karton aus dem Modeladen ihrer Mutter.
     Sie öffnete ihn erst abends, als sie von der Universität nach Hause kam, und packte aus dem Seidenpapier ein elegantes, enggeschnittenes
     Kleid aus. »Vielleicht kannst du es zum Examen tragen«, stand auf der beigelegten Karte. Sie hängte das Kleid in der Wandnische,
     in der sie ihre Garderobe aufbewahrte, ganz nach hinten.
    In einer der folgenden Nächte träumte sie, daß sie in völliger Finsternis und Stille auf einem Notbett in der alten Wohnung
     ihrer Eltern lag. Lautlos wurde eine Tür geöffnet, und jemand trat ein, den sie nicht sehen konnte. Sie wußte, es war ihr
     Vater, der sie betrachtete. Er schwand schon wieder unaufhaltsam und konnte sich ihr nicht zeigen.
    Der Schrecken kam erst, als sie wach wurde und in der Dunkelheit ihres Zimmers nicht nur nicht wußte, wo sie sich befand,
     sondern lähmende Augenblicke lang ohne jede Erinnerung an sich selbst war.
     
    Ihren späteren Mann lernte sie kennen, als sie sich auf eine Empfehlung hin um einen Ferienjob bewarb, der wie für sie gemacht
     zu sein schien. Ein Arztehepaar, das in einem alten Villenviertel der Stadt ein luxuriös eingerichtetes Haus besaß, suchte
     eine zuverlässige Person, die während einer längeren Auslandsreise des Paares darin wohnte. Viel, so hatte ihre Vorgängerin
     gesagt, sei nicht zu tun. Sie mußte die Pflanzen gießen, abends das Haus abschließen und die Außenbeleuchtung und die Alarmanlage
     einschalten. Die meisten Lebensmittel konnte sie in einem Laden in der Nähe kaufen. Einmal in der Woche kam eine Putzfrau,
     die das Haus in Ordnung hielt.
    Sie fuhr an einem Sonntag mit der Bahn zur Endstation und fragte an dem Kiosk nach der Straße, die sie suchte. Sie mußte noch
     ein Stück gehen, ohne daß sie einen Menschen sah. Hier und da konnte sie durch eine Einfahrt in die Tiefe eines Grundstücks
     blicken. Das gab ihr das Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun, und sie ging weiter, um nicht aufzufallen. Sie war fremd hier und
     fühlte sich fehl am Platz. Aber sie wurde von dem Arztehepaar freundlich empfangen und zum Tee eingeladen, anschließend durch
     das Haus geführt. Ihr wurde ein Zimmer mit hellen Kirschbaummöbeln zugewiesen und ein dazugehöriges Bad, und selbstverständlich
     konnte sie den großen Wohnraum, das Bibliothekszimmer, die Küche und den Garten benutzen. Sie fühlte sich eingeschüchtert
     nach diesem Rundgang, als setze das Haus sie einer Prüfung aus, der sie nicht gewachsen war.
    Da die Sonne schien und die Terrassentüren geöffnet waren, trat man in den sommerlichen Garten hinaus. Sie wollte noch einen
     Augenblick im Gespräch standhalten, um den Eindruck ihrer Schüchternheit zu verwischen, als sie in derEinfahrt neben dem Haus ein Auto hörte und kurz danach auf dem Seitenweg ein großer Mann in
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