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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch
Autoren: Dieter Wellershoff
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–, und dann noch
     mehr, als ich den dünn besetzten Zuschauerraum betrat, in dem gerade die letzten Werbespots über die Leinwand liefen, hatte
     ich das Gefühl, etwas Falsches zu tun. Ich hatte mir das falsche Medikament, die falsche Behandlung verordnet, weil ich nicht
     wußte, was mir fehlte.
    Der Film, den ich mir ausgesucht hatte, war in der Presse hervorragend besprochen worden, und ich konnte, durcheinen Schleier von Gleichgültigkeit, seine Qualitäten erkennen, war aber nicht imstande, mich auf ihn einzulassen. Je suggestiver
     die Szenen und Bilder waren, um so stärker fühlte ich, daß etwas in mir verschüttet wurde. Es war ein Angriff der Unwirklichkeit
     auf meine Erinnerung, der mich zwischendurch nötigte, die Augen zu schließen. Ich konnte mich aber erst nach etwa zehn Minuten
     aufraffen hinauszugehen.
    Ich schob mich aus der Sitzreihe, vorbei an Leuten, die automatisch ihre Beine einzogen, um mich durchzulassen. Hinter mir
     auf der Leinwand entwickelte sich ein heftiger Wortwechsel zwischen einem Mann und einer Frau, der, bis zur Unverständlichkeit
     gedämpft, noch weiter zu hören war, als ich mich schon wieder in dem mit einem schmutzigen dunkelroten Stoff bespannten Gang
     befand, an dessen Wänden wie verblaßte Erinnerungen alte Filmplakate hingen. Der Gang kam mir anders vor als vorhin, als ich
     eilig hindurchgegangen war, beschleunigt noch dadurch, daß er merklich, vielleicht um ein Viertel der Geschoßhöhe, zum Ende
     hin abfiel. Jetzt stieg er an und bremste mich und ließ mich fühlen, daß ich nicht wußte, wo ich hinwollte.
    Ich hatte mich mit meinem Entschluß, die Vorstellung zu verlassen, selbst überrumpelt. Und anders wäre es auch nicht möglich
     gewesen, nicht mit Gründen, die mich hätten überzeugen können. Denn wenn ich mir gesagt hätte, ich wolle das Bild retten,
     in dem du mir, wie in einem plötzlichen Rücksprung der Zeit, an einer beliebigen Straßenkreuzung erschienen warst, dann hätte
     ich mir geantwortet: Wozu? Sie ist seit sechs Jahren tot. Und mehr als ein Jahr vor ihrem Tod hast du dich von ihr getrennt.
     Du hast die besten Gründe dafür gehabt. Es hat keinen Sinn, daran zu rühren.Das ist ein Knäuel, das sich nicht entwirren läßt, ohne daß man in Gefahr gerät, sich wieder darin zu verstricken.
    Doch ich war nicht gefeit gewesen gegen dein plötzliches Erscheinen in Gestalt einer anderen Frau, die im Moment der Täuschung
     dir etwas hinzugefügt oder geliehen hatte, das mich denken ließ, daß ich dich zum ersten Mal richtig sah.
    Draußen erwartete mich nun wieder der normale Zustand der Welt: Straßen ohne Geheimnis, das übliche Menschengewühl. Alles,
     was ich jetzt tun konnte – zum Beispiel essen gehen und einen guten Wein trinken –, hatte im Augenblick den faden Geschmack
     des Notbehelfs. Mißmutig blieb ich bei den in der Vorhalle ausgehängten Programmen stehen, ohne mir irgend etwas einzuprägen.
     Als ich mich gleich danach abwandte, fing ich den neugierigen Blick der Kassiererin auf, die mich aus ihrem Kassenhäuschen
     heraus beobachtete. Sie hatte mich anscheinend wiedererkannt, weil ich der letzte Besucher der laufenden Vorstellung gewesen
     war und sie als erster wieder verlassen hatte.
    »Hat Ihnen der Film nicht gefallen?« fragte sie.
    »Ich habe ihn mir nicht genau angeschaut«, antwortete ich und lächelte sie an, um die feindselig klingende Schroffheit meiner
     Worte abzumildern.
    Sie sah jetzt ein wenig ratlos aus. Und als wolle sie ihre Neugier rechtfertigen, sagte sie: »Ich habe gehört, es sei ein
     sehr guter Film.«
    »Kann schon sein«, sagte ich.
    Auch das war eine hingeworfene Floskel, die Unlust ausdrückte, mich auf das Gespräch einzulassen. Ich hatte aber angefangen,
     sie anzuschauen und abzuschätzen. Sie war eine Frau von Mitte Vierzig, mit einem nicht mehr ganz zuverhehlenden Doppelkinn und vollen Brüsten, wie ich sie schon oft operiert hatte. Sie konnte genausogut verheiratet oder geschieden
     sein, in beiden Fällen war das vermutlich längst ein Dauerzustand, der sie nicht mehr beunruhigte. Die träge Üppigkeit ihrer
     Erscheinung machte mir den Eindruck, daß sie in sich selbst ruhte, obwohl ich ihr jetzt eine kleine Unsicherheit anmerkte.
     Sie wußte nicht, was sie von mir halten sollte.
    Dieser kleine unscheinbare Widerspruch eines vielleicht irritierbaren Gleichgewichts forderte mich heraus. Ich spürte den
     Wunsch, diese gerade erst beginnende Aufregung zu verstärken, obwohl ich
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