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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch
Autoren: Dieter Wellershoff
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Helligkeit ließ die Stadtlichter schärfer hervortreten. In der Stadt mußte
     irgend etwas los sein, denn an den Kreuzungen der Ringe und der Ausfallstraßen staute sich der Verkehr zu langen Lichterketten
     aus Scheinwerfern und roten Rücklichtern. Ich hatte jetzt nichts mehr zu versäumen und legte, was ich selten tue, eine Kassette
     ein, um bei Musikbegleitung zu überlegen, wie ich den Abend verbringen wollte. Ich hatte wenig Lust, unter Menschen zu sein,
     und entschied mich für meine Rodenkirchener Wohnung, wo vom gefüllten Kühlschrank bis zum Rotwein alles vorhanden war, was
     ich zum Überleben brauchte.
    Ich hatte Stoff zum Nachdenken. Wieder einmal hatte ich mich so verhalten, wie es laut Marlene mein fatales Muster war. Du
     mußt dich immer von anderen Leuten davorbewahren lassen, Dummheiten oder Fehler zu machen. Selbst kannst du das offenbar nicht, vor allem nicht, wenn es sich um eine
     Frau handelt. So ungefähr hatte sie sich ausgedrückt. Sie, die Frau, um derentwillen ich meine erste Frau und meine beiden
     Kinder verlassen hatte, und die sich schließlich von mir trennte, als sie glaubte, mich gründlich genug zu kennen, um in allem,
     was ich tat oder nicht tat, »mein Muster« zu sehen.
    Es war schon deutlich dunkler, als ich meinen Wagen in der Garage der Wohnanlage parkte und noch das kurze Stück schräg über
     die Uferwiesen zum Rhein hinunterging, in dessen dunklem Wasser sich einige verstreute Lichter der Uferbeleuchtung spiegelten.
     Mit roten und grünen Positionslichtern fuhr die hoch aus dem Wasser ragende dunkle Masse eines leeren Tankschiffes stromaufwärts.
     Vielleicht würde es in dem nahen Hafen der Godorfer Raffinerie über Nacht vor Anker gehen. Es tuckerte vorbei und ließ als
     seine Schleppe eine flache Welle ans Ufer plätschern. Das Motorgeräusch wurde schnell leiser und war nicht mehr zu hören,
     als das Schiff am Campingplatz vorbeifuhr, wo alles still und dunkel war. Als ich mich umwandte und zur Uferstraße zurückging,
     begegneten mir zwei verspätete Jogger, die aus den Pappelwaldungen des Weißer Rheinbogens kamen. Ich weiß nicht, warum gerade
     sie ein Gefühl von Einsamkeit in mir aufkommen ließen. Vielleicht, weil sie so schnell und wortlos im Dunkel verschwanden,
     als seien sie auf der Flucht.
    Später dann, in meiner Wohnung, hinter der zweifach verschlossenen Sicherheitstür, machte ich es mir behaglich mit viel Licht
     und CD-Musik zum improvisierten Abendessen. Ich konnte allerdings nicht verhindern, daß meineStimmung sich verschlechterte. Der tote alte Mann auf dem Operationstisch kam mir wieder vor Augen, die vergeblichen Wiederbelebungsversuche,
     mein gereizter Wortwechsel mit dem Anästhesisten und die Bedrücktheit, in der wir schließlich alle auseinandergingen. Heute,
     das wußte ich, hatte ich Vertrauen verspielt, nicht weil ich bei der Operation etwas verpatzt hatte, sondern wegen meiner
     Unbeherrschtheit hinterher. Ich hatte nicht mehr viele Freunde in der Abteilung. Und dann, am späten Nachmittag, als ich vorhatte,
     ins Kino zu gehen, hast du meinen Weg gekreuzt, auch eine Tote, die als Lebende nicht zu retten war, wie ich es ihr bei Gelegenheit
     gesagt hatte. Zuunterst in meinem Schrank lag ein großer Umschlag mit ihrer chaotischen Hinterlassenschaft, den mir Marlene
     geschickt hatte, die die wenigen Zeugnisse eingesammelt hatte, die von Anjas Leben übrig waren. Sie hatte sie mir zusammen
     mit einem kurzen Brief geschickt, der kein Wort des Vorwurfs enthielt, aber als Geste erschreckend gewirkt hatte, als hätte
     sie mir das Konvolut vor die Füße geschleudert und gesagt: Da hast du es! Anja hatte sich in Sahlenburg, einem kleinen Ort
     am Wattenmeer, umgebracht, indem sie sich aus dem 14. Stock eines Wohnturms stürzte, der wie einen ironischen Kommentar auf
     ihr dort zu Ende gegangenes Leben den Namen »Frische Brise« trug. Ich war bisher nie hingefahren. Aber ich wollte es einmal
     tun.

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Spurensuche
    Hier war es. Hier ist es geschehen. Nicht unbedingt in dieser Wohnung, aber in einem der seewärts gelegenen Apartments im
     14. Stock des Wohnturms, die offenbar alle den gleichen Grundriß haben. Es gibt einen großräumigen Wohnraum, eine Schlafkammer
     und links neben dem Vorraum mit der Garderobe ein kleines Bad. In dem Winkel zwischen dem Wohnraum und der kleinen Schlafkammer
     befindet sich die Loggia, die ich bisher noch nicht betreten habe. Zwei zusammengeklappte Liegestühle lehnen dort an der
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