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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch
Autoren: Dieter Wellershoff
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mir gleichzeitig sagte: Was soll's? Laß die Finger
     davon. Sie ist nicht dein Fall.
    Doch das waren Einwürfe, die nur mein Interesse schürten. Denn immer schon war es das Besondere und leicht Unangemessene gewesen,
     was mich am meisten faszinierte. Das Unangemessene, um dessentwillen ich das Richtige verriet. So habe ich Marlene an dich
     verraten, vor allem deshalb, weil ich wußte, daß es falsch war. Die Grenzen des Gesicherten und Achtbaren zu überschreiten,
     war für mich die Bedingung der Leidenschaft geworden, seit mich als 16jähriger Schüler eine mehr als doppelt so alte Frau
     in die Liebe eingeführt hatte, der es genauso gegangen war. Leidenschaft, das ist die Kraft, alles zu verwandeln und auf den
     Kopf zu stellen. Daran allein kann man sie messen.
    Ich sah die Frau an und wußte, daß sie nicht zu mir paßte. Doch sie hatte eine angenehme Stimme mit Unter- und Obertönen,
     von der ich noch andere Laute hören wollte, wenn das scheinbar Unangemessene für Augenblicke zum einzig Richtigen geworden
     war. Und in der Ungeduld meines Wunsches fragte ich: »Wie lange müssen Sie hier noch sitzen?«
    »Warum wollen Sie das wissen?« fragte sie.
    »Weil ich Sie zum Abendessen einladen möchte.«
    Ich glaubte sehen zu können, daß sie darauf nicht gefaßt war. Doch dann sagte sie etwas, womit ich nicht gerechnet hatte:
     »Sie wissen wohl heute gar nichts mit sich anzufangen?«
    »Stimmt«, sagte ich, »bis gerade eben nicht. Aber jetzt habe ich Ihnen ja einen Vorschlag gemacht.«
    Sie schaute mich an, als wolle sie hinter meinem Vorschlag etwas Verborgenes, vielleicht Bedrohliches erkennen und schätze
     Gründe und Gegengründe ab, aus denen sie ihre Antwort gewinnen wollte. Und in diesen Sekunden, es waren wohl nur Sekunden,
     in denen ich alles zugleich erfaßte ihre blondgefärbten Haare, ihren glatten, weichen Hals mit der Goldkette und dem Amulett,
     den rosafarben geschminkten, ziemlich großen Mund und ihre graublauen, immer noch skeptischen Augen –, dachte ich, daß es
     mir gefallen würde, dieses sorgfältig abgestimmte Bild in einem jetzt schon vorausgeahnten Aufruhr zu sehen.
    »Ich werde um 19 Uhr abgelöst«, sagte sie.
    »Gut, dann komme ich und hole Sie ab.«
    Aber sie schlug ein Café in der Nähe als Treffpunkt vor. Wahrscheinlich wollte sie von ihren Kolleginnen nicht mit mir zusammen
     gesehen werden. Wer weiß, was für Gründe sie hatte. In puncto Geheimhaltung dachte sie wohl genauso wie ich.
    Es blieben noch anderthalb Stunden Zeit. Ich kaufte mir eine Zeitung und ging gleich in das vereinbarte Café, um dort auf
     sie zu warten. Ich bestellte eine Portion Kaffee, überflog die letzte Seite der Zeitung mit den kurzen Berichten von Skandalen
     und Unglücksfällen, überflog die Sportnachrichten und legte die Zeitung wieder weg. Ich hatte einen kleinen Zweiertisch gewählt, an dem man sich ziemlich dicht
     gegenübersaß, und ich versuchte, mir das vorzustellen. Aus dem Brustbild war eine vollständige Frau geworden. Sie hatte mich
     gleich beim Eintreten gesehen. Ich war aufgestanden und hatte sie empfangen. Immer schon habe ich gefunden, daß es ein besonders
     aufregender Moment ist, wenn eine immer noch fremde Frau aus dem Hintergrund der unzähligen Möglichkeiten des Lebens hervortritt
     und zum ersten Mal auf einen zukommt. Aber so konnte ich es ihr nicht sagen, allenfalls später, wenn man mit einander zugewandten
     Gesichtern auf einem gemeinsamen Kopfkissen lag. Die richtige intime Sprache, das, was sagbar ist, so heißt das wohl, mußte
     man immer erst allmählich erfinden. Zunächst einmal würde ich es bei einem freundlichen »Schön, daß Sie da sind« belassen.
     Und sie würde vielleicht erzählen, welche Schwierigkeiten sie gehabt habe, pünktlich zu sein. Danach würde man den gemeinsamen
     Abend planen. Ich hatte meinen Wagen ganz in der Nähe in der Tiefgarage des Holiday Inn abgestellt. Wir konnten also, wenn
     sie Lust hatte, in irgendein auswärtiges Restaurant fahren. Aber dort traf ich vielleicht eher auf Bekannte oder Kollegen
     aus der Klinik, und es war anonymer, in ein kleines Lokal in der Innenstadt zu gehen. Im Grunde war mir das alles gleichgültig.
     Auf sie war ich gespannt.
    Das allein Wichtige war, wo gingen wir nach dem Abendessen hin? Wenn ich sie im Auto nach Hause fuhr, mußte ich hoffen, daß
     sie mich einlud, noch auf einen Drink mit in ihre Wohnung zu kommen. Vielleicht war das nicht möglich, denn ich wußte ja nicht,
     wie sie
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