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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
Autoren: Kai Meyer
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  CHINA
    WÄHREND DER QING-DYNASTIE 1760 N. CHR.
     
    PROLOG
     
    S ie war als Menschenmädchen unter Drachen aufgewachsen. Aber erst an dem Tag, als die Drachen aus der Welt verschwa n den, wurde Nugua bewusst, wie sehr sie sich von ihnen unterschied.
    Nie war sie einem anderen Menschen von Angesicht zu Ang e sicht begegnet. Sie hatte bei den Drachen gelebt, solange sie denken konnte, und keiner hatte ihr je das Gefühl gegeben, etwas anderes zu sein als eine von ihnen. Kleiner, natürlich. Ohne Schuppen, Hörner und goldene Augen. Aber im Herzen doch ein Drache wie alle anderen.
    Der mächtige Yaozi, größter unter den Drachen des Südens, hatte sie einst zwischen den Bäumen am Fuß der Berge gefu n den, ein Neugeborenes – ein Menschenopfer. Verzweifelte Bauern hatten die Drachen gnädig stimmen wollen, damit sie aus ihren Bergwäldern herabstiegen und den Menschen Regen brachten. Das war alles, was Nugua über ihre Herkunft wusste. Fast wäre es ihr lieber gewesen, Yaozi hätte ihr nie davon erzählt. Dann hätte sie vielleicht glauben können, wirklich ein Drache zu sein, trotz ihrer winzigen Gestalt, trotz der verletzl i chen bleichen Haut und den grünen Mandelaugen.
    Yaozi lachte oft über die Einfalt der Menschen am Fuß der Berge. » Wie können sie glauben, ein so kleines nacktes Ding könne uns satt machen? Wie können sie glauben , meine kleine Nugua sei aufgefressen mehr wert als leben dig? «
    Sie saß im Schneidersitz vor ihm auf einem Felsen, weich gepolstert auf einem Kissen aus Moos. Yaozis gewaltiger Schädel pendelte in der Luft, zehnmal so groß wie sie selbst. » Warum gibt es nicht nur Drachen auf der Welt? «, fragte sie.
    Ein amüsiertes Schnauben trompetete aus Yaozis Nüstern. Eine flirrende Wolke wie Goldstaub verflüchtigte sich himme l wärts. » Warum gibt es nicht nur die Berge, sondern auch Wälder und Flüsse und Seen? «, hielt er dagegen. » Alles hat seinen Wert für die Welt – nur ist es manchmal schwer, ihn zu erkennen. «
    Und wie ein Berg überragte Yaozi das Mädchen tatsächlich. Sein Schädel senkte sich beim Sprechen zu ihr herab. Das spitze Maul öffnete sich nur unmerklich, wenn er damit Worte formte. Seine Schuppen, jede so groß wie Nuguas Oberkörper, waren rostrot und bronzefarben; sie schimmerten im Dämmerlicht der Bergwälder wie ein Sonnenaufgang. Aus seiner Stirn wuchsen Hörner, geformt wie ein Hirschgeweih, und aus den Lefzen seines Drachenmauls schlängelten sich zwei baumlange goldene Fühler wie Schnurrhaare, mit denen er Nugua manchmal anstupste, wenn er ihr zeigen wollte, wie gern er sie hatte.
    » Wenn alles einen Wert hat, welchen Wert haben dann die Menschen? «, fragte sie. Sie sagte nicht » wir Menschen «, denn sie fühlte sich nicht wie einer.
    » Irgendwann werden auch sie sich ihrer Bedeutung bewusst werden «, entgegnete der Drache.
    » Das sagst du nur, weil ich aussehe wie sie. «
    » Das sage ich, weil es die Wahrheit ist. «
    Nugua schüttelte den Kopf und hob einen Käfer von ihrem Knie. Für sie war er so klein wie sie selbst in den Augen des Drachen. Vorsichtig setzte sie ihn neben sich auf den Stein. » Menschen sind schwach und dumm «, sagte sie leise. » Sonst würden sie ihre Kinder nicht den Drachen opfern, damit sie ihnen Regen bringen. «
    » Ohne den Regen müssen die Menschen hungern. «
    » Und ohne ihre Kinder gibt es bald keine Menschen mehr, die hungern könnten. «
    Yaozi schüttelte lachend seine blutrote Drachenmähne, die vom Hinterkopf über seinen eingerollten Schlangenleib wallte. Sein rechter Fühler tupfte eine Freudenträne aus seinem gold e nen Auge, der linke aber schob sich auf Nugua zu und berührte sanft ihre Stirn.
    » Du sprichst wie ein Drache «, stellte er fest. » Wie ein junger, vorwitziger, nicht besonders gut erzogener Drache. Aber doch wie ein Drache. «
    Nugua umfasste den riesigen Fühler und drückte ihn an sich. Er war breiter als sie selbst und fühlte sich warm an. Geschme i dige Muskeln lockerten sich unter der Goldhaut und passten sich der Form ihres Körpers an.
    » Ich will niemals ohne euch sein «, sagte sie glücklich.
    » Das musst du nicht «, sagte Yaozi.
    Aber bald darauf waren die Drachen verschwunden.
    Und Nugua blieb ganz allein zurück.
    * * *
    Als sie an jenem Morgen erwachte, hatte es aufgehört zu regnen. Das war das erste Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte. Auf Orte, an denen Drachen hausen, fäll t s tets ein sanfter Sommerregen, auch während der kalten
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